Auf die Ohren
los und ich muss machtlos mit ansehen, wie Clarissa nach links entschwindet, ohne mich bemerkt zu haben.
So ein Mist aber auch. Da trifft man sich schon mal außerplanmäßig, ist eigentlich nur drei Meter voneinander entfernt und dann kriegt sie es nicht mit. Ich meine, wie gering ist die Wahrscheinlichkeit wohl, dass wir beide ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in diesen beiden U-Bahnen auf diesen Plätzen sitzen? Das kann mit Sicherheit nicht mal der Knipfer ausrechnen. Und dann sieht sie mich nicht, um diesen außergewöhnlichen Zufall perfekt zu machen. Daran hätten wir uns bestimmt noch ewig erinnert. Weißt du noch, an diesem einen Samstag, als ich mit der U-Bahn in den Proberaum und du …
Augenblick mal. Das fällt mir ja jetzt erst auf. Wo fährt sie denn eigentlich hin? Hat sie nicht gesagt, sie müsse zur Tafel? Ja, das hat sie gesagt. Aber die Tafel ist genau in der entgegengesetzten Richtung. Ich fahre quasi in Richtung Tafel, Clarissa fährt irgendwo anders hin. Aber wohin? Und warum sagt sie mir, sie fährt zur Tafel, wenn es offenbar gar nicht stimmt? Hat sie mich etwa angelogen? Nein, das würde sie nie machen, da bin ich mir ganz sicher, warum auch? Wahrscheinlich ist irgendetwas kurzfristig dazwischengekommen. Ja, das muss es sein. Irgendwas ganz Banales. Und sie wird es mir heute Abend gleich erzählen und sich darüber ärgern, dass sie mich eben nicht gesehen und diesen Zufall nicht perfekt gemacht hat.
»Nächster Halt: Dornbusch«, verkündet die Sprechanlage über mir. Alles klar, da muss ich raus.
Wir haben seit vier Monaten einen Proberaum im Marbach-Bunker. Vorher haben wir bei uns zu Hause im Keller geprobt, aber das wollte ich meinen Eltern und den Nachbarn auf Dauer nicht zumuten. An den Raum im Bunker sind wir über Steffen gekommen, da haben wir echt Glück gehabt. Proberäume sind rar gesät und äußerst gefragt, vor allem zu dem Preis. Wir zahlen hundertzehn Öcken im Monat, inklusive Strom, das ist echt nichts. Okay, dafür durften wir auch schuften wie eine Horde Zwangsarbeiter im Steinbruch. Ursprünglich bestand unser Proberaum nämlich aus zwei kleinen Räumen, da musste erst mal eine komplette massive Wand aus Backsteinen eingerissen werden, das war vielleicht eine Schufterei. Der Proberaum ist im zweiten Stock und wir mussten jeden einzelnen Stein selbst runterschleppen. Dann haben wir noch die Wände frisch gestrichen und einen billigen Teppichboden verlegt. Für eine Couch oder andere Sitzgelegenheiten fehlte uns dann leider das Geld.
Ansonsten ist das aber ein Weltklasse-Proberaum. Wir können jederzeit rein, sogar sonntags, und von den anderen Bands im Bunker kriegt man so gut wie gar nichts mit. Links neben uns hat sich irgendein Techno-Fuzzi sein Studio eingerichtet, der aber nie da ist, wenn wir proben, und rechts neben uns probt eine Hippie-Mittelalter-Band, die auf naturbelassene, sprich: nicht verstärkte Klänge schwört. Wer in den anderen Stockwerken probt, weiß ich nicht. Ab und zu begegnet man mal jemandem im Treppenhaus und grüßt sich, ansonsten bleibt aber alles ziemlich anonym.
Von daher beachte ich den Typ, der gerade ein Plakat an die Wand im Eingangsbereich klebt, als ich den Bunker betrete, auch nicht großartig, sondern winke ihm nur kurz lässig zu und gehe weiter.
Zum Glück bleibt uns so eine Plakatklebeaktion diesmal erspart. Für eine Abi-Party muss man nicht extra Werbung machen, da kommen die Leute sowieso.
Als ich die Tür zum Proberaum aufschließe und öffne, strömt mir dieser unverwechselbare Proberaumduft entgegen – eine muffige Mischung aus altem Schweiß, kalter Asche, Bierflaschenresten und Rock ’n’ Roll. Ja, richtig, Rock ’n’ Roll kann man riechen. Und das ist der geilste Geruch der Welt. Wer einmal Rock ’n’ Roll geschnuppert hat, kommt nicht mehr davon weg. Mit Rock ’n’ Roll in der Nase hast du gar keine andere Wahl, als sofort loszurocken. Und genau das mache ich jetzt auch.
Ich drehe die Boxen unserer Gesangsanlage Richtung Schlagzeug, den Lautstärkeregler ganz nach rechts und schließe meinen MP 3-Player an. Zuerst noch ein paar Lockerungsübungen mit den Stöcken, um die Handgelenke geschmeidig zu machen, dann kann es losgehen.
Womit fange ich an? Natürlich habe ich sämtliche Probeaufnahmen unserer Songs auf dem Player und werde sie auch alle pflichtbewusst üben, aber für den Anfang hätte ich doch lieber etwas rein zum Spaß.
Ich durchforste meine Playlists. Oh ja, genau, Blink 182, darauf
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