Auf doppelter Spur
für möglich hielt, dass der Unbekannte ihr Ehemann gewesen sei, von dem sie sich vor zehn Jahren getrennt habe. Sie sollte heute Morgen kommen. Er rief nach Sergeant Cray und fragte:
»Ist diese Mrs Rival noch nicht da?«
»Eben gekommen… sieht ein bisschen nach Tingeltangel aus – viel, aber schlechtes Make-up. Im Ganzen eine ziemlich zuverlässige Frau, würde ich sagen… Nein, aufgeregt ist sie nicht.« Cray ging aus dem Zimmer und führte eine Frau herein: »Mrs Rival, Sir.«
Der Inspektor stand auf und schüttelte ihr die Hand. Anfang Fünfzig, dachte er – von Weitem konnte man sie vielleicht auf Dreißig schätzen. Ein ziemlich gutmütiger Typ, dachte er sich nach einem prüfenden Blick. Zuverlässig? Das war die Frage.
»Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mrs Rival, und ich hoffe, dass Sie uns helfen können.«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Mrs Rival entschuldigend. »Aber er sah wie Harry aus, sogar sehr. Natürlich weiß ich, dass ich mich getäuscht haben kann. Ich hoffe nur, dass ich Ihre Zeit nicht umsonst in Anspruch nehme… Sehen Sie, es ist schon lange her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.«
»Könnten wir ein paar Angaben haben, die uns weiterhelfen? Wann haben Sie Ihren Mann denn zuletzt gesehen?«
»Das habe ich mir die ganze Zeit im Zug schon überlegt. Ich glaube, ich schrieb, vor etwa zehn Jahren; aber es muss länger her sein. Ich glaube, eher fünfzehn Jahre. Die Zeit vergeht ja so schnell. Vermutlich schwindelt man ein bisschen, weil man sich noch jünger fühlt, als man ist. Meinen Sie nicht auch?«
»Das mag sein«, sagte der Inspektor. »Also, Sie meinen, dass Sie ihn vor fünfzehn Jahren zuletzt gesehen haben? Wann haben Sie geheiratet?«
»Etwa drei Jahre vorher. Ich wohnte damals in Shipton Bois in Suffolk… Mein Mann war Versicherungsvertreter. Zumindest sagte er das.«
Der Inspektor blickte interessiert auf.
»Haben Sie festgestellt, dass es nicht stimmte?«
»Eigentlich nicht… nicht damals. Später kam ich erst auf den Gedanken, dass es vielleicht nicht stimmen könnte. Für einen Mann ist es sehr einfach, so etwas zu behaupten, nicht? Ich meine, es ist eine gute Entschuldigung dafür, oft abwesend zu sein.«
»War Ihr Mann oft von zuhause weg, Mrs Rival?«
»Zuerst habe ich mir nicht viel dabei gedacht.«
»Aber später?«
»Können wir es nicht hinter uns bringen? Schließlich, wenn es nicht Harry ist…«
Er fragte sich, woran sie wohl dachte. Ihre Stimme klang gepresst, bewegt vielleicht? Er war sich nicht sicher.
»Ich kann verstehen, dass Sie erst Gewissheit haben möchten.« Er stand auf und begleitete sie zu dem wartenden Auto. Er sprach die üblichen beruhigenden Phrasen; es würde nur ein oder zwei Minuten dauern.
Die Bahre war herausgerollt worden, der Wächter hob das Laken. Ein paar Augenblicke sah sie hinunter, ihr Atem ging schneller. Sie gab einen schwachen, keuchenden Laut von sich, dann wandte sie sich abrupt weg.
»Es ist Harry. Ja. Viel älter. Er sieht anders aus. Aber es ist Harry.«
Der Inspektor nickte dem Wächter zu, legte dann seinen Arm um sie und brachte sie wieder zum Wagen. Sie fuhren zum Revier zurück. Als sie in sein Büro kamen, stand eine Kanne Tee und zwei Tassen auf dem Schreibtisch.
»Hier, Mrs Rival. Trinken Sie eine Tasse, das wird Ihnen guttun.«
Schnell trank sie eine Tasse Tee mit viel Zucker. »Jetzt geht es mir schon wieder besser«, sagte sie. »Nicht, dass es mir wirklich naheginge. Nur – nur, nun, ganz unberührt bleibt man nicht, nicht wahr?«
»Sie meinen, dass dieser Mann mit Sicherheit Ihr Ehemann gewesen ist?«
»Ja. Natürlich ist er viel älter geworden, aber eigentlich hat er sich gar nicht so sehr verändert. Er sah immer gut aus – sehr adrett. Nett, wissen Sie, gute Klasse.«
Ja, dachte Hardcastle, das war eine recht gute Beschreibung. Gute Klasse. Vermutlich hatte Harry viel besser ausgesehen, als er seinem Charakter nach gewesen war.
Mrs Rival sagte: »Er war immer sehr eigen mit seiner Kleidung gewesen. Deshalb, glaube ich – fielen sie so leicht auf ihn herein. Sie haben nie etwas geargwöhnt.«
»Wer fiel auf ihn herein, Mrs Rival?«, fragte Hardcastle mit sanfter, teilnehmender Stimme.
»Frauen«, antwortete Mrs Rival. »Frauen. Dort war er die meiste Zeit.«
»Und Sie erfuhren davon?«
»Nun, ich – ich wurde misstrauisch. Er war so oft weg. Ich glaubte, dass da von Zeit zu Zeit ein Mädchen dahintersteckte. Es hat wenig Sinn, Männer danach zu fragen.
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