Auf Dunklen Schwingen Drachen1
allesamt Drachenkühe.
Ein Drachenbulle ist erheblich beeindruckender.
Eine Drachenkuh hat eine Schulterhöhe von etwas unter zwei Metern. Ein Bulle dagegen ragt zwei Meter fünfzig auf. Die Farben eines weiblichen Drachen vermischen sich und blenden nicht, doch das schillernde Smaragdgrün und Rosinenrot der Schuppen eines Drachenbullen wirkt wie polierte Edelsteine. Dieser Eindruck wird noch durch die eleganten Riechfühler betont, die Bullen schmücken. Ein weiblicher Drache weist keine solchen Fühler auf.
Werden den Drachenkühen, außer denen, die in den Stallungen eines Kriegerfürsten stehen, schon gleich nach dem Schlüpfen die Schwingen amputiert, bleiben die Schwingen der Bullen unangetastet. Ihre Spannweite beträgt nicht sieben Meter, wie die der Jährlinge, sondern mehr als dreizehn Meter. Ich habe zwar auch in meiner Zeit in Tieron niemals gesehen, wie ein Drachenbulle seine Schwingen spreizte, aber ich habe oft von den anderen Onai Erzählungen darüber gehört. Die Schwingen der Bullen in unserer Obhut jedoch waren verwelkt und zerfressen von Alter und nicht besonders beeindruckend.
Ihre Zungen dagegen schon.
Sie waren lang, gegabelt, so blass wie der Mond und fleckig von schwarzem Gift, das aus den Giftdrüsen im Hals der Bullen stammte. Den Drachenkühen werden, mit Ausnahme derer in den Ställen der Kriegerfürsten, nach dem Schlüpfen diese Giftdrüsen ebenfalls entfernt. Einem verehrten Bullen dagegen nicht.
Zuerst haben mir diese Zungen Angst eingeflößt, bis ich begriff, wie zahm, wie müde, wie uralt die Bullen bei uns waren. Bis ich ihnen in die Augen sah und dort die bestürzende Klugheit bemerkte, die in ihren traurigen, echsenartig geschlitzten Augen schimmerte.
Sie machten viel Arbeit, diese zahnlosen, taumelnden Bestien. Abgesehen davon, dass wir sie ständig füttern mussten, sie pflegten, den Dung ausmisteten, ihnen Wasser holten, uns achtmal zwischen einem Morgen und dem nächsten vor ihnen auf die Erde warfen und sie dazu jede Nacht bewachten, mussten wir auch noch genauestens Buch darüber führen, wie viel sie fraßen, ausschieden und tranken. Jeden Monat mussten wir eine Kopie dieses Berichts an den Ranreeb der Dschungelkrone senden.
Das erforderte natürlich die Herstellung von Papier, eine weitere arbeitsintensive Aufgabe.
Stets fügten wir den Berichten an den Ranreeb eine Liste der Dinge bei, die wir am dringendsten benötigten. So lernte ich, ohne Scham und wiederholt um Mildtätigkeit zu bitten. Gewiss, Betteln ist eine Schande, das will ich nicht bestreiten. Aber mit etwas Übung kann man die Scham überwinden und sich aufs Wesentliche konzentrieren: auf das Überleben.
Wie sorgfältig wir diese Schriftrollen anfertigten, wie lange wir abwogen, welche Güter am wichtigsten waren und ohne welche wir einen weiteren Monat zurechtkamen.
Denn hätten wir um alles gebeten, was wir so dringend benötigten, hätte der Ranreeb uns alles verweigert. Immerhin waren wir heilige Frauen, die den Bequemlichkeiten der materiellen Welt entsagt hatten, um die Cinai Kuneus im Namen aller Malacariten zu ehren.
Da ich die Jüngste im Konvent war – Kiz-dan war ihrer eigenen Einschätzung nach etwa vierundzwanzig, sie wusste es aber nicht genau, also ungefähr vierzehn Jahre älter -, bestand Boj-est darauf, dass ich lesen und schreiben lernte. Nur zwei der achtundzwanzig Onai im Konvent Tieron beherrschten bei meiner Ankunft diese Kunst. Boj-est selbst und Nae-ser, eine bärtige, grauhaarige Frau, die unablässig furzte.
Nae-ser hatte versucht, Kiz-dan die Kunst des Lesens und Schreibens beizubringen, und Kiz-dan konnte die Narben auf ihren Knöcheln von Naesers Bambusstock als Beleg dafür vorweisen. Aber etwas stimmte mit Kiz-dans Augen nicht. Sie erkannte ein einfaches hieratisches Schriftzeichen, aber wenn sie dann im Text weiterging, konnte sie dasselbe Schriftzeichen nicht mehr identifizieren. Nae-ser war davon überzeugt, dass Kiz-dans Begriffsstutzigkeit gespielt war, und ich, das muss ich zugeben, glaubte das auch. Kiz-dan war nämlich sehr geschickt. Aber seitdem habe ich festgestellt, dass es noch mehr gibt, die unter demselben Gebrechen leiden, das auch durch noch so viel Schläge nicht kuriert werden kann.
Also lernte ich neben all den Pflichten, die meine Kindheit auffraßen, auch noch die Kunst des Lesens und Schreibens. Sowohl in der Sprache des Imperators als auch in unserer Muttersprache, dem Malacarit. Gelegentlich auch ein paar Brocken Xxeltekisch und
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