Auf in den Urwald (German Edition)
überschauen konnte, wohldurchdacht. Alles Weitere, dessen war sie sich sicher, würde sie zum gegebenen Zeitpunkt dank ihrer herausragenden Intelligenz zu ihrem Vorteil lösen können.
Wie damals vor acht Jahren im brasilianischen Regenwald, als das Flugzeug, in dem sie, ihre Schwester, Gernot Jagenberg und sein Bruder Ludwig einen Erkundungsflug machten, kurz vor der Landung überraschend in ein heftiges Unwetter geriet und abstürzte. Oder erst vor dreieinhalb Monaten, als Ludwig Jagenberg völlig unverhofft hier in der Klinik aufgetaucht war.
Vanessa Jagenberg hatte so lange nichts mehr von ihrem Schwager gehört, dass sie geglaubt hatte, er sei nun endlich tot. Der Amazonas-Urwald war voller Gefahren und Ludwig Jagenberg ein unverbesserlicher Abenteurer, einer, der ständig Kopf und Kragen riskierte und sich nur selten über die Folgen seiner Unternehmungen Gedanken machte. Entsprechend überrascht war sie, als er – zwar ziemlich heruntergekommen, aber im Grunde doch unversehrt – plötzlich vor der Tür stand, seine große zerschlissene Sacktasche über die Schwelle hievte und einfach meinte: »Lange her, dass wir uns gesehen haben. Ich wollte mal schauen, wie es dir so geht!«
Nur einen kleinen Augenblick lang ließ sich Vanessa Jagenberg von seinem breiten Lächeln täuschen, das übrigens in abgeschwächter Form immer um seinen Mund lag, seitdem ihm ein vergifteter Pfeil die Wangenmuskeln verletzt hatte. Dann sagte ihr der Verstand, dass er nur deshalb gekommen sei, um mit ihr abzurechnen.
Schon am ersten Abend war es dann so weit. Nachdem sich Ludwig an die gemeinsamen alten Zeiten in Brasilien erinnert und dabei jede Menge Wein getrunken hatte, wurde er mit einem Male ernst und fragte ziemlich unvermittelt: »Wo ist Wilfried?«
Vanessa Jagenberg richtete sich in ihrem Sessel auf. »In München«, antwortete sie knapp.
»Wo in München?«
»Das geht dich nichts an. Man sorgt dort gut für ihn.«
»Ist das alles?«
»Ja.«
»Ich hätte es mir denken können«, sagte Ludwig und schaute Vanessa Jagenberg geradeaus in die Augen. »Es passt alles so schön zusammen ...« Er griff zum Weinglas und trank betont langsam.
»Ludwig!«, entschloss sich Vanessa Jagenberg zum Angriff. »Du bist doch nicht aus alter Freundschaft gekommen. Lassen wir also das dumme Katz- und Mausspiel. Sag, was du wirklich von mir willst!«
Ludwig nickte ein paarmal nachdenklich, dann meinte er: »Ja, du hast recht, das Spiel ist aus. Du sollst die Wahrheit wissen: Ich habe in eine falsche Goldmine investiert und eine Million Dollar Schulden gemacht. Ich brauche das Geld, so schnell es geht.«
»Und was habe ich damit zu tun?«, wollte Vanessa Jagenberg wissen.
»Du wirst mir das Geld besorgen.«
»Warum sollte ich?«
»Weil du mir noch eine ganze Menge schuldest, das weißt du genau!«
»Ach, nun fang doch nicht wieder mit dieser alten Geschichte an!«, lachte Vanessa Jagenberg spöttisch.
»Das ist keine alte Geschichte«, sagte Ludwig Jagenberg ernst. »Ich war schließlich derjenige, der Gernot jahrelang das Geld für diese Klinik hier, seine Forschungsarbeiten und Expeditionen besorgt hat! Wenn es mich nicht gegeben hätte, wäre er mit all seinen schönen Plänen gleich am Anfang gescheitert. Zwei Millionen Dollar waren es am Ende, die er mir schuldete. Weißt du, was ich aus diesem Geld in den letzten acht Jahren hätte machen können? Das Zehnfache!«
»Es war eben dein Pech, dass du ihm das Geld einfach so auf Treu und Glauben geliehen hast. Eine deiner vielen Investitionen, die sich nicht gelohnt haben.«
»Ja, für mich hat es sich nicht gelohnt ...« Ludwig Jagenberg lächelte bitter. »Desto mehr aber für dich. Du verdankst deinen ganzen Erfolg nur Gernot. Ohne seine Arbeiten wärst du heute ein Nichts! Du stehst genauso in meiner Schuld, wie er es getan hat!«
»Du weißt, dass das nicht so ist! Ich habe aus seinen Arbeiten erst das Richtige gemacht. Er war nur ein Träumer, ein Narr, der am Ende kurz vor dem Ruin stand. Und was die Frage der Schuld betrifft: Du hast gewusst, dass der Pilot seine Lizenz verloren hatte, und du hast trotzdem sein Flugzeug gemietet ... Aber damit soll es genug sein. Ich habe wirklich keine Lust mehr, diese alte Geschichte aufzuwärmen!« Vanessa Jagenberg stand auf und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
»Nicht so hastig!«, sagte Ludwig Jagenberg. Seine Stimme klang plötzlich hart. »Ich möchte dir zu dieser ›alten Geschichte‹ noch ein paar
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