Auf in den Urwald (German Edition)
fragte sie noch, als bekäme sie es plötzlich mit der Angst zu tun: »Was deine ›ungeduldigen‹ Gläubiger betrifft – du wirst doch wohl nicht überall erzählt haben, dass du zu mir nach Deutschland fliegst?«
»Natürlich nicht. Ich habe mir sogar einen falschen Pass besorgt. Und trotzdem – egal wo man sich verkriecht, mit der Zeit finden die einen überall. Jedenfalls möchte ich ungern mit einer Kugel im Kopf enden.« Ludwig sammelte vorsichtig die Linsen ein, steckte den Umschlag in die Tasche und sank in den Sessel zurück. Das viele Reden hatte ihn sichtlich erschöpft und der Wein sein Übriges getan.
Vanessa Jagenberg atmete innerlich auf. Keiner in Brasilien wusste also, dass Ludwig hier war. Es war im Grunde wie immer: Er hatte sich mal wieder etwas vorgenommen, was im Endeffekt ein paar Nummern zu groß für ihn war. Eine grinsende, jämmerliche Gestalt, die durch einen Zufall auf ein goldenes Korn gestoßen war und glaubte, ihr Glück machen zu können. Sie hätte jetzt einfach warten können, bis er ins Bett ging und seinen Rausch ausschlief. Völlig problemlos hätte sie dann seine schönen Beweise vernichten und ihn dadurch ins Leere laufen lassen können. Aber da war noch Wilfried, der Ludwig auf keinen Fall begegnen durfte. Nein, sie musste bei genau dem Plan bleiben, der ihr in dem Augenblick eingefallen war, als die beiden Kontaktlinsen auf den Tisch gerollt waren. Sie musste Ludwig beseitigen, und zwar so schnell es ging.
Schon ein paar Tage später erklärte Vanessa Jagenberg Ludwig, es sei ihr gelungen, das Geld flüssig zu machen. Aus verständlichen Gründen habe sie einige komplizierte Transfers vornehmen müssen, schließlich lagerte ein Teil ihres Vermögens im Ausland. Nun läge es aber abholbereit im Safe der Filiale der »Internationalen Investitionsbank« in Augsburg. Sie schlug vor, es dort gemeinsam abzuholen. Sofort anschließend, das war ihre Bedingung, sollte Ludwig Jagenberg ihr die Beweise aushändigen, nach Brasilien zurückfliegen und nie wieder zurückkehren.
Nachdem Ludwig Jagenberg einen entsprechenden Kontoauszug eingesehen hatte, erklärte er sich einverstanden. Es erstaunte ihn zwar, dass die Reise bis nach Augsburg gehen sollte, aber einen Verdacht schöpfte er nicht. Er konnte nicht wissen, dass Vanessa Jagenberg nach ihrem Studium eine Zeit lang in Augsburg in einer Klinik gearbeitet hatte und sich dementsprechend sehr gut in der Stadt auskannte. Die gute Kenntnis der Stadt aber war Voraussetzung für den Plan, den sie immer wieder durchdacht hatte, bis er ihr perfekt erschien.
An einem Donnerstagnachmittag fuhren Ludwig und Vanessa Jagenberg nach Augsburg, kamen dort am Abend an und mieteten ein Doppelzimmer im »City-Hotel«. Das Geld sollte am nächsten Tag um 11 Uhr abgeholt werden, der Flug nach Rio de Janeiro ging von Frankfurt aus gegen 20 Uhr. Wie nicht anders erwartet, machte sich Ludwig sofort nach der Ankunft an die Mini-Bar des Hotelzimmers. Er war nervös, trank sehr hastig, und da die kleinen Weinflaschen bald leer waren, griff er schließlich zu den härteren alkoholischen Getränken. Vanessa Jagenberg wartete geduldig. Es war im Grunde egal, wann sie den nächsten Teil ihres Plans ausführte, nur bis zum nächsten Morgen musste es geschehen sein. Gegen halb neun versuchte sie es zum ersten Mal und hatte gleich Glück. Sie erklärte Ludwig, sie habe Hunger und schlug vor, in ein Restaurant in der Nähe des Stadtparks essen zu gehen, das sie von einem früheren Besuch in Augsburg kannte. Ludwig war einverstanden. Daraufhin ging Vanessa Jagenberg ins Bad, schminkte sich und zog in der Diele ihren Mantel an. Dann betrachtete sie Ludwig von Kopf bis Fuß und meinte: »Du könntest dich wenigstens kämmen, wenn du mit mir ausgehst. Wir sind hier schließlich in einer Großstadt und nicht im Urwald!«
Ludwig verzog unwillig sein Gesicht, ging dann aber doch ins Badezimmer. In diesem Augenblick setzte Vanessa Jagenberg den vorletzten Teil ihres Plans in die Tat um. Sie holte rasch aus der Manteltasche eine kleine Plastiktüte heraus und schüttete den Inhalt – eine genau abgemessene Menge vom völlig geschmacksneutralen Extrakt der Canalaria-Pflanze – in das halb volle Glas, das Ludwig auf dem Tisch hatte stehen lassen. Die Canalaria-Pflanze diente, nach einer entsprechenden Vorbehandlung, als Grundlage der »Juventin«-Medizin, war aber im puren Zustand äußerst giftig. Als Ludwig wieder aus dem Badezimmer zurückkam, tat er genau das,
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