Auf in den Urwald (German Edition)
was sich Vanessa Jagenberg die ganze Zeit erhofft hatte: Er griff zu dem Glas und trank es mit einem einzigen Schluck leer.
Nun galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Am Hotelausgang angekommen, sagte Vanessa Jagenberg, sie habe schon den ganzen Abend Kopfschmerzen. Sie bat Ludwig deshalb, nicht ein Taxi zu bestellen, sondern mit ihr zu dem nicht sehr weit entfernten Restaurant zu Fuß zu laufen. Sicher würden ihre Kopfschmerzen an der frischen Luft davon besser werden. Ludwig zögerte zwar zuerst ein wenig, da er sich plötzlich seltsam müde fühlte und gähnen musste. Als ihm Vanessa Jagenberg jedoch mit einem aufmunternden Lächeln versicherte, auch ihm würde nach dem vielen Alkoholgenuss ein Spaziergang guttun, willigte er ein.
Die Nacht war kalt und ein wenig neblig, es roch nach Schnee, der bald fallen würde. Vanessa Jagenberg schaute unauffällig auf die Uhr – es blieben ihr ziemlich exakt 20 Minuten – und ging dann rasch los. So rasch, dass Ludwig, dem die seltsame Müdigkeit immer mehr zu schaffen machte, Mühe hatte, ihr zu folgen. So fiel ihm gar nicht auf, dass sie auf der Höhe des Stadtparks nach und nach von der belebten Straße wegkamen und einem Parkweg folgten, der nur schwach von wenigen Laternen erhellt wurde. In der Nähe eines kleinen Sees geschah dann das, was Vanessa Jagenberg vorausberechnet hatte. Ludwig Jagenberg verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich stehen.
»Ich kann nicht mehr so schnell«, sagte er atemlos. »Meine Beine fühlen sich irgendwie schwer an, ich habe wohl zu viel getrunken ...«
»Nein, du hast nicht zu viel getrunken, Ludwig«, sagte Vanessa Jagenberg ruhig und kam auf ihn zu. »Du hast nur das Falsche getrunken.«
Es dauerte einen kleinen Augenblick, bis Ludwig begriff. Dann begann er, mit hektischen Bewegungen seine Jacke abzusuchen. Vergeblich.
»Der Revolver«, flüsterte er angestrengt. »Er ist in der Tasche ...«
»Und die Tasche liegt im Hotel. Diesmal hat sie mein Leben gerettet, wie die Zufälle so spielen, nicht wahr?«, lachte Vanessa Jagenberg. Dann wurde sie ernst. »Du hast geglaubt, es mit mir aufnehmen zu können. Aber du hast mich unterschätzt. Es war dein letztes, großes ...«
Sie sprach nicht weiter, denn Ludwig taumelte plötzlich und brach zusammen. Die lähmende Wirkung des Canalaria-Gifts setzte erst nach längerer Zeit, dann aber äußerst heftig ein. Vanessa Jagenberg ging auf die Knie und legte ihr Ohr an seinen grinsenden Mund. Er atmete noch und es galt jetzt, schnell zu handeln. Sie durchsuchte alle seine Taschen und leerte sie vollständig. Dann rollte sie ihn die an dieser Stelle ziemlich abschüssige Wiese zu dem See hinunter und stieß ihn ins Wasser. Später würde es so aussehen, als sei er betrunken gestolpert und von allein gerollt.
Damit waren alle Spuren beseitigt. Nirgendwo würde die Polizei auch nur eine Andeutung von Gewalt finden. Das Gift der Canalaria-Pflanze war zwar im Körper noch lange nachzuweisen, aber nur, wenn man wusste, dass es angewandt worden war. Da Ludwig noch geatmet hatte, waren seine Lungen voller Wasser. Er war auf klassische Art und Weise ertrunken, ein bedauernswerter Unfall. Und wenn man auch in der Gerichtsmedizin durch irgendeinen unglaublichen Zufall das Gift entdeckte, was bedeutete dies schon? Niemand kannte ihn hier und niemals würde es gelingen, seine Identität, die er zudem noch bei der Einreise selbst falsch angegeben hatte, festzustellen. Noch nicht einmal, wenn man in allen Hotels und Pensionen Augsburgs nachforschte. Auch hier hatte Vanessa Jagenberg selbstverständlich vorgesorgt. Während Ludwig sich nach der Ankunft um das Auto gekümmert hatte, hatte sie das Zimmer bereits bar bezahlt und konnte verschwinden, ohne sich noch mal an der Rezeption lange aufhalten zu müssen. Erinnerte sich später der Portier an Ludwig und an sie, was nutzte das schon? Sowohl ihr Name als auch ihre Adresse, die sie auf das entsprechende Formular eingetragen hatte, waren vollständig falsch. Völlig unwahrscheinlich war, dass dieser Fall irgendein überregionales Aufsehen erregte, dazu war er zu unbedeutend. Kurzum: Ludwig Jagenberg hätte schon von den Toten auferstehen müssen, damit ihr Plan scheiterte, aber ein solches Wunder – Vanessa Jagenberg musste stets bei dem Gedanken lächeln – war vor dem Jüngsten Gericht nicht zu erwarten.
Die nachfolgende Zeit gab ihr recht. Mehr als drei Monate waren schon seit jener Nacht in Augsburg vergangen, und außer einer
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