Auf in den Urwald (German Edition)
Augen und seitlich auf der Stirn ein paar blutige Kratzer, sogar eine Beule.
»Ist gestern in Geisterbahn passiert«, kam Edek rasch einer Frage zuvor. »Musste mich schnell beeilen, Wagen war aus Schiene gesprungen, hab dickes Rohr nicht gesehen.«
»Sag mal, hast du getrunken?«, fragte Mirja. »Du riechst so komisch nach Bier oder Wein ...«
»Ja, Wein. Ich war mit Wilfried Pizza essen, war nichts mehr da in Kühlschrank.«
»Und ich habe mich schon gewundert, wo ihr bleibt. Warum bist du nicht mehr gekommen?«
»Ich war ganz müde. War gestern viel Stress auf Geisterbahn, viel Leute, ganz viel Leute ...«
»Ich war gestern auch völlig fertig. Den ganzen Tag im Krankenhaus, das strengt beinahe mehr an als die Geisterbahn. Ich wollte noch auf dich warten, aber dann bin ich wohl eingeschlafen, ich weiß gar nicht, wann.«
»Und ich hab gesehen, dass schon Licht aus war«, erklärte Edek, froh darüber, dass Mirja offensichtlich nicht mitbekommen hatte, wann er wirklich zurückgekehrt war. »Und jetzt hole ich Wilfried!«
»Gut, der Kaffee ist gleich fertig.«
Edek verließ den Wohnwagen, lief zur Geisterbahn, hob eine der Planen hoch und rief nach oben, Wilfried solle auf der Stelle frühstücken kommen.
»Gleich«, rief Wilfried zurück, »ich muss meinem Onkel nur noch die Jacke zuknöpfen!«
Die Jacke zuknöpfen? Fluchend kletterte Edek das Gestänge hoch. Als er oben am »Toten Mann« ankam, verschlug es ihm die Sprache: Wilfried hatte doch tatsächlich seinem Onkel die Sachen des »Toten Mannes« angezogen und ihm sogar die große, grüne Perücke über den Kopf gestülpt. Sie war ihm bis über die Augen gerutscht, und das ewige Grinsen wirkte jetzt fast so, als amüsiere sich Onkel Ludwig über das kleine Missgeschick.
Edek stürzte sich auf den Sarg. »Bist du verrückt, Wilfried!«, tobte er los und schlug den Deckel mit aller Wucht zu. »Was meinst du, wenn Mirja kommt nach oben? Willst du, dass Mirja tot umfällt?«
»Nein«, sagte Wilfried, ziemlich erschrocken über Edeks heftige Reaktion.
»Komm jetzt in Wohnwagen frühstücken! Und wehe, du sagst auch nur ein Wort von deine tote Onkel! Edek reißt dir gleich ganzen Kopf ab! Und wasch dir vorher Hände. Alles stinkt nach deine tote Onkel, Mirja glaubt schon, Edek hat gestern ganzes Fass Wein getrunken!«
»Mein Onkel stinkt nicht«, wehrte sich Wilfried. »Er riecht nach Formalin, weil man ihn konserviert hat. Das hat mein Papa auch manchmal mit Pflanzen gemacht.«
»Halt M-m-mund, Wilfried!« Das zähneklapprige Stottern von gestern Nacht war wieder da, und Edek konnte nichts dagegen machen.
»Aber ...«
»Ich w-w-will nichts mehr hören!«, unterbrach ihn Edek, der nicht nur am ganzen Körper zitterte, sondern plötzlich auch wieder das seltsame Gefühl hatte, er sei zwei verschiedene Edeks. »Und wehe, du sagst bei F-f-frühstück auch nur ein W-w-wort!« Er machte mit den Händen eine Gebärde, als drehe er Wilfried den Hals um, und ließ ihn dann einfach stehen.
Sobald Mirja zu ihrem Vater ins Krankenhaus gefahren war, würde er mit diesem Verrückten endgültig abrechnen. Aus welchem Irrenhaus hatte man den bloß entlassen? Urwald, Flugzeugabsturz, Onkel Ludwig! Es war einfach nicht mehr zum Aushalten!
Am Wohnwagen zurück, blieb Edek erst einmal stehen und atmete tief durch. Er musste sich jetzt unbedingt zusammennehmen und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Ein ganz normaler Morgen mit einem ganz normalen Edek.
Edek rückte seine Jacke zurecht, verzog das Gesicht zu einem Lächeln, betrat den Wohnwagen und setzte sich an den Tisch.
»Wilfried kommt gleich«, sagte er.
Mirja schüttete ihm Kaffee ein. »Was wollte der schon so früh in der Geisterbahn?«, fragte sie.
»Weiß nicht ...«, antwortete Edek mit einem Schulterzucken und fragte dann rasch: »Wie geht es deine Papa? Geht besser?«
Mirja setzte sich. »Gestern war schlimm«, meinte sie, »Papa muss eine Entgiftungskur machen. Das geht ganz schön an die Nieren. Gestern Abend hat er so gestöhnt und getobt, dass ihn die Schwestern ans Bett schnallen mussten, damit ihm nichts passierte. Der Arzt sagte, das sei normal, so ginge es die ersten Tage allen, die auf Entzug wären. Aber ich dachte, ich sterbe ...«
Edek zuckte zusammen.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Mirja besorgt.
»Nur ein bisschen Kopfschmerzen«, sagte Edek, »ist nicht schlimm.« Er trank etwas Kaffee. Ein neues Thema musste her, und zwar so schnell wie möglich. Bloß keine
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