Auf in den Urwald (German Edition)
Wilfried unsicher.
»Äh, nein. Ich hab falsch erklärt. Noch einmal: Du nimmst Nadel. Nadel hat oben Loch ...«
»Der Anzug hat ein Loch«, meinte Wilfried.
»Ja, Anzug hat auch Loch. Nadel hat Loch, und Anzug hat Loch, sind aber zwei verschiedene Löcher ...«
Wilfried schnaufte. Diesmal angestrengt.
»Ist okay«, gab Edek auf. »Komm mit in Wohnwagen. Ich zeig dir gleich, wie Nähen geht. Geht ganz einfach, du wirst sehen!«
Wilfried schaute nicht gerade begeistert drein.
»Und wenn du nicht kannst«, ließ Edek nicht locker, »dann, dann näh ich Loch von Anzug zu. Ganz einfach!«
»Gut«, sagte Wilfried erleichtert, »ich will es versuchen.«
Edek atmete innerlich auf, löschte das Licht in der Geisterbahn und schloss das Kassenhäuschen ab. Dann gingen beide.
Im gleichen Augenblick löste sich von der anderen Ecke der Geisterbahn ein Schatten. Es war Berthold. Verächtlich spuckte er zu Boden. Wie man zerrissene Klamotten von irgendeinem Onkel flickte, wollte der große Revolverheld dem Riesen zeigen. Es war einfach zum Totlachen. Trotzdem machte Berthold ein eher verbissenes Gesicht. Er hätte den kleinen Angeber heute gerne auseinandergenommen. Doch in Anwesenheit des Riesen traute er sich nicht. Er musste noch warten, bis er ihn mal allein erwischte. Das fiel ihm nicht gerade leicht. Wirklich nicht. Aber wenn es dann so weit war, würde er gleich doppelt oder dreifach zuschlagen. So, dass Edek nicht mehr wusste, wo oben und wo unten war. So, dass er alle seine Zähne einsammeln konnte. So, dass die Ärzte Mühe haben würden, ihn wieder zusammenzuflicken.
· 4 ·
I love your life, I love my life. I love your life, I love my life ...
Mirja wippte mit dem Fuß zum Takt der Musik, die vom Autoskooter-Geschäft nebenan tönte. Es ging ihr schon besser. Eine Woche hatte sie Tag für Tag bei ihrem Vater im Krankenhaus verbracht, am Ende war es ihr vorgekommen, als seien es Monate gewesen. Jede Stunde eine Ewigkeit. Und die letzten drei Tage nur Vaters deprimierendes Schweigen. Vorgestern, als klar war, dass nichts mehr passieren konnte, war Mirja beinahe so weit, dass sie Edek Bescheid geben wollte, er solle sie sofort abholen. Zum Glück war sie aber noch geblieben, denn Freitagnachmittag rief eine der Schwestern Vater zum Telefon. Da er gerade nicht aufstehen konnte, nahm Mirja den Anruf entgegen. Es war Jeschke. Ob er denn ihren Vater bald mal besuchen könne, meinte er, er könne nämlich nicht mehr länger auf das Geld warten und brauche es sofort. Endgültig. Mirja hängte wütend ein, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Als sie aufs Zimmer zurückkam, fragte der Vater: »Jeschke will sein Geld, nicht wahr?« – »Das will er schon lange«, sagte Mirja. Darauf erwiderte ihr Vater nichts und starrte nur wieder die Decke an.
»Alles okay?« Es war Edek. Er kam immer mal wieder am Kassenhäuschen vorbei und fragte. Mirja lächelte. Edek wirbelte den Schraubenschlüssel in die Luft, fing ihn geschickt wieder auf und verschwand mit einem Augenzwinkern.
I love your life, I love my life. I love your life, I love my life ...
Edek war wie aufgedreht. So kannte Mirja ihn gar nicht. Schon heute früh, als er mit der Bahn gekommen war und sie abgeholt hatte, war es ihr aufgefallen. Er war irgendwie so anders als sonst. Mal wollte er etwas über ihren Vater wissen, dann erzählte er von der Geisterbahn, dann plötzlich, wie schön es in Paris würde, wenn sie dort mal hinführen, dann fragte er wieder nach dem Vater, und so in einem fort. Und als Mirja ihm von Jeschkes Anruf berichtet hatte, hatte er laut gelacht und gemeint, Jeschke solle sich nicht so anstellen, er werde schon noch zu seinem Geld kommen.
»Und wie?«, hatte Mirja erstaunt gefragt.
»Irgendwie ...«, meinte Edek und fügte dann noch schnell hinzu: »Jeschke muss warten, bis deine Vater aus Krankenhaus kommt. Oder kann er deine Vater besuchen?«
»Nein, ich hab dem Arzt alles erzählt. Er hat mir versprochen, dass er keinen Besuch zu Papa lässt und schon gar nicht den Jeschke.«
»Dann alles klar. Wir werden noch mit Jeschke sprechen. Später. Ich hab keine Angst vor Jeschke. Vor ein paar Tagen ist Jeschke gekommen und ich hab ihn aus Wohnwagen geworfen!«
»Du den Jeschke?«
»Ja, kein Problem. Wenn Jeschke von dir was will, sag, er soll zu mir kommen. Du wirst sehen, wie er Angst hat. Ist nur kleine Bandit. Und jetzt ist erst mal schön, dass du kommst, und Wilfried und ich nicht mehr allein arbeiten
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