Auf in den Urwald (German Edition)
und die verdammten Narben am Haaransatz kamen immer mehr zum Vorschein. Und dann geschah plötzlich wieder das Schreckliche, das, was sie schon seit Tagen verfolgte und quälte: Aus ihrem Gesicht begann sie im Spiegel ein anderes Gesicht anzustarren. Ein unförmiges, blutiges, zerschundenes Gesicht. Ein Gesicht, das sie hasste, das sie wahnsinnig machte ...
Ein Zittern erfasste Vanessa Jagenberg, das sie nicht beherrschen konnte. Sie musste sich noch einmal »Juventin« spritzen und die Dosis erhöhen. Sie wusste, dass sie in einen verhängnisvollen Kreislauf geraten war. Jede über das normale Maß hinausgehende Dosis der Medizin machte süchtig nach einer noch höheren Dosis. Aber sie musste dieses Gesicht verbannen, um jeden Preis. Dieses Gesicht wollte verhindern, dass sie siegte. Das würde sie nicht zulassen. Niemals.
Mit nass geschwitzten Händen griff Vanessa Jagenberg zu der Ampulle »Juventin«, zog die Spritze bis an den Rand auf und spritzte sich die Medizin. Gleich danach durchströmte sie schockartig eine heiße Welle, das Zittern hörte auf und sie beruhigte sich.
Sie ließ sich auf das Bett fallen und wartete noch eine Weile. Dann kehrten ihre Gedanken zu dem seltsamen Eduardo Stermann zurück. Mit diesem Mann stimmte etwas nicht. Warum hatte er ihr nicht auf Portugiesisch, wie jeder andere Brasilianer, sondern auf Englisch geantwortet, als sie ihn gefragt hatte, wo und wann sie ihm das Geld bringen solle? Ganz offensichtlich hatte er sie nicht verstanden, jedenfalls tat er ziemlich überrascht. Und woher hatte er überhaupt angerufen? Diese Musik. Wie aus einer Bar, und doch war es mit Sicherheit keine gewesen. Irgendetwas fehlte oder es war zu viel. Lauter Fragen, auf die es keine Antwort gab. Noch nicht.
Über die drei Millionen brauchte sie sich keine großen Gedanken zu machen. Die lagen noch immer in Ludwigs schäbiger Tasche. Außerdem war die Frage des Geldes sowieso zweitrangig. Im Gegenteil – je mehr es war, desto besser. Desto mehr Zeit brauchte der Erpresser, um es zu zählen. Und diese Zeit hatte dann sie, um zu handeln.
Vanessa Jagenberg schloss die Augen und sah, wie sich der Kopf des Erpressers über das viele Geld senkte. Sie würde ihn eine Weile zählen lassen. So lange, bis seine Aufmerksamkeit nachließ. Und dann würde sie schießen.
Sie musste ihn nur noch so weit bringen, dass der Tausch an einem völlig abgelegenen Ort und Zug um Zug geschah. Dass er nicht erst mit dem Geld verschwand. Aber darüber machte sich Vanessa Jagenberg keine Sorgen mehr. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie würde es schaffen. Irgendetwas sagte ihr zunehmend stärker, dass der Mann am anderen Ende der Leitung bei Weitem nicht so hartgesotten war, wie er sich gab.
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A m Mittwochabend kurz vor neun – der erste Kirmestag in Bonn steuerte seinem Ende entgegen – machte sich Edek auf den Weg zu der Telefonsäule, die er schon gestern in einer kleinen Nebenstraße ausgekundschaftet hatte. Er lief am Rheinufer entlang, vorbei an dem chinesischen Schiffsrestaurant, von dem ihm Mirja in Augsburg erzählt hatte, dann hinter den Geschäften weiter und erreichte die Säule pünktlich um neun. Leider war sie besetzt. Ein fetter Mann hatte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und redete ohne Punkt und Komma und in einem fort. Edek schaute auf die Uhr. Es war schon drei nach neun. Hatte der Fettkloß eigentlich kein Handy? Hoffentlich machte er bald Schluss. Und hoffentlich ging nicht ausgerechnet jetzt etwas in der Geisterbahn kaputt.
Der Mann klemmte sich den Hörer jetzt an das andere Ohr. Edek trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Wenn er doch wenigstens verstehen würde, was der Mann da redete. Sozusagen mitkriegte, wann er endlich auf das Ende zusteuerte. Aber es war nicht möglich. Die Musik von der Kirmes war zu laut, dazu lärmte noch der Verkehr, der sich über die nahe Rheinbrücke wälzte. Über diese Brücke musste Edek morgen fahren, um das Geld abzuholen. Gestern, als Mirja mit der anderen Hälfte der Geisterbahn noch in Pforzheim geblieben war, hatte er Wilfried allein gelassen und war mit dem entkoppelten Tieflader durch Bonn gefahren. Nach einigem Herumirren hatte er schließlich einen guten Übergabeplatz gefunden. In einem Stadtteil namens Lüdinghoven, den er schnell über die Autobahn erreichen konnte. Dort, in einem Wäldchen mit einem Bach und einem kleinen See, würde er Vanessa Jagenberg treffen. Alles andere war dann nur noch eine
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