Auf nassen Straßen
und vor allem kleine Kähne nicht zu gefährden und die Spundwände des Kanals nicht durch erhöhten Wasserdruck zu belasten. Ich fahre die höchste Geschwindigkeit, die zulässig ist!«
»Sie sind ein Trottel! Ich gebe Ihnen drei Flaschen Whisky, wenn Sie volle Kraft laufen! Nur drei Kilometer, Bunzel! Ein kurzes Stück. Nur zum Überholen! Fünf Flaschen! Ich will an der ›Guter Weg‹ vorbeifliegen! Ich will wie ein Adler einen Spatz überholen. Zehn Flaschen, Bunzel!«
Karl Bunzel schloß die Augen. Zehn Flaschen Whisky! Zehn Flaschen Seligkeit. Er spürte den Geschmack des Whiskys auf der Zunge, er fühlte, wie ihm das Wasser im Munde zusammenlief, wie sein Kehlkopf juckte.
»Ich lasse mich bestechen«, sagte er laut. Dabei drückte er mit den auf den Rücken gelegten Händen den Maschinentelegrafen auf volle Kraft. Es klingelte im Schiff. Ein Zittern lief durch den schlanken weißen Leib.
»Sie haben es doch getan!« Jochen Baumgart atmete auf. »Sie sind mein Mann, Bunzel!«
Wie ein Schnellboot, mit dem spitzen Kiel das Wasser durchschneidend und Wellen gegen die Spundwand schleudernd, daß sie weit hinaus auf die Wiesen sprangen, jagte die ›Fidelitas‹ an der ›Guter Weg‹ vorbei.
Jochen Baumgart starrte durch sein Glas. In der Ruderkajüte regte sich nichts. Er trat hinaus auf den Brückenvorsprung und beugte sich vor. Da – ein Schatten, ein Gesicht hinter dem Glas – graue, lockige Haare – Mutter …
Jochen setzte das Glas ab. Mutter am Ruder? Das war doch unmöglich! Das hatte es noch nie gegeben, solange er denken konnte. War etwas auf der ›Guter Weg‹ passiert? Wo waren der Vater und Hannes …
Sie rauschten an der ›Guter Weg‹ vorbei. Deutlich sah er die Mutter am Ruder stehen – mit beiden Händen umklammerte sie die Holme des großen Steuerrades und hatte Mühe, das Schiff im Sog der schnellen ›Fidelitas‹ auf Kurs zu halten.
»Mutter …«, sagte Jochen leise. Er lehnte an der weißlackierten Reling und sah zu ihr hinüber. Dann fuhr er herum und brüllte Karl Bunzel an:
»Halbe Kraft! Sofort halbe Kraft! Wir drücken den anderen Kahn ja weg! Gehen Sie sofort herunter!«
»Idiot«, zischte Bunzel leise. Er schob den Telegrafenhebel auf halbe Kraft.
Die ›Fidelitas‹ war an Baumgarts Zille vorbeigerauscht. Noch einmal blickte Jochen zurück und sah jetzt den Vater aus dem Einstieg des Laderaumes III rennen. Er sah, wie der Alte die Tür des Steuerhauses aufriß, und zuckte empor, als der erste SOS-Ruf in den blauen Sommerhimmel gellte.
Karl Bunzel trat hinaus auf die Brücke und lehnte sich über die Reling.
»Heute ist wohl alles verrückt, was? SOS? Wo brennt's denn? Der Kahn ist doch noch flott!«
»Alle Maschinen stopp!« schrie Jochen. Er rannte die Treppe herunter und riß das Fernglas wieder an die Augen. Über die schmalen Laufplanken der ›Guter Weg‹ rannte wieder der Vater und verschwand im Laderaum III. Noch immer gellte die Sirene – SOS – SOS – SOS – Mutter mußte sie jetzt ziehen, es war sonst keiner im Ruderhaus.
Mit Hannes ist etwas geschehen, durchfuhr es Jochen. Sein Gesicht wurde hart und kantig. Du Schwein, hat er zu mir gesagt, dachte er. Mein Bruder hat mich einen Satan genannt, ein Aas, einen Lumpen. Ersäufen wollte er mich wie einen jungen Hund. Er wollte mich töten. Und jetzt soll ich Mitleid haben?
Karl Bunzel blieb unten an der Reling stehen. Vier Matrosen hatten das Beiboot des Schiffes klar gemacht und ließen es jetzt zu Wasser. Die ›Guter Weg‹ war längsseits der ›Fidelitas‹ gekommen, und der alte Baumgart tauchte wieder aus dem Laderaum auf, rannte zum Ruderhaus und stellte den Motor aus. Dann lief er zur Mitte seines Kahnes und legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund.
»Ich brauche Hilfe!« schrie er. »Mein Sohn ist schwer verletzt. Haben Sie einen Arzt oder einen Sanitäter an Bord?«
Jochen Baumgart stand hinter der Tür der Kommandobrücke. Sie verdeckte ihn vor den Blicken des Vaters.
»Nennen Sie nicht meinen Namen«, sagte er zu Karl Bunzel. »Und helfen Sie!«
»Ich komme selbst rüber!« rief Bunzel zu dem alten Baumgart hinüber. »Ich bin ausgebildet! Was hat er denn?«
»Unfall! Armbruch und innere Verletzungen.«
»Ich komme!«
Er sprang in das Beiboot und ließ sich mit ein paar Ruderschlägen hinüber zu der ›Guter Weg‹ gleiten. Jochen Baumgart lugte durch das Fenster der Kommandobrückentür. Er kam sich wie ein Aussätziger vor, der sich allen Blicken verbirgt, nicht wie
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