Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
sein. Man müsste rund um die Uhr Leute auf dem Campo dei Frari und San Tomà postieren, und selbst dann könnte man nicht sicher sein, ob die Leute, die in der calle ein und aus gehen, genau zu diesem Haus wollen.«
»Wüssten Sie einen von uns, der in der Gegend wohnt?«, fragte er.
»Ich sehe mal nach«, sagte sie und wandte sich ihrem Computer zu. Brunetti nahm an, sie lud die Personalakten der Leute hoch, die in der Questura arbeiteten. Keine zwei Minuten später sagte sie: »Nein, Signore. Im Umkreis von zwei Brücken wohnt dort niemand. – In Anbetracht seiner Vorgeschichte«, fuhr Signorina Elettra fort und legte eine Hand auf die Papiere, um die Aufmerksamkeit auf Gorini zurückzulenken, »ist es eher unwahrscheinlich, mit oder ohne Signorina Montini, dass er hier untätig Däumchen dreht.«
»Und wenn er aus Erfahrung klug geworden ist«, ergänzte Brunetti, »wird er keine Mitarbeiter mehr einstellen und sich auf nichts verlegen, wozu er eine Zulassung oder amtliche Bescheinigungen braucht. Warum also nicht als Wahrsager arbeiten?«
»Das hat ja auch mit Psychologie zu tun, oder?«, fragte Signorina Elettra.
So tröstend es sein mag, wenn die eigenen Vorurteile bestätigt werden – Brunetti sagte jetzt lieber nichts.
Als er sie wieder ansah, hatte Signorina Elettra ihr Kinn in die linke Hand gestützt, die rechte lag auf dem Rand der Tastatur. »Nein«, sagte sie, nachdem sie sich lange mit dem leeren Bildschirm beraten zu haben schien. »Wir haben keine Möglichkeit, das Haus zu überwachen. Und wenn der Vice-Questore dahinterkommt, was wir hier treiben, gibt es Ärger.«
»Fürchten Sie sich davor?«, fragte er.
Sie schnaubte verächtlich. »Nicht meinetwegen. Und auch nicht Ihretwegen. Aber er würde es an Vianello auslassen und an allen anderen Beteiligten, und Scarpa hätte er auch auf seiner Seite. Das ist es nicht wert.«
Sie richtete sich auf und drückte ein paar Tasten. »Hier, sehen Sie ihn sich an.«
Brunetti trat hinter sie, gerade als das Foto eines Mannes in der klassischen Pose des soeben Verhafteten auf dem Bildschirm erschien. »Das ist aus seiner Zeit in Aversa, also fünfzehn Jahre her«, sagte sie. »Ein aktuelleres Bild konnte ich nicht finden.«
»Hat er nie seine carta d’identità verlängern lassen?«, fragte Brunetti.
»Doch, aber in Neapel, vor fünf Jahren: Die haben die Akte verlegt.«
»Glauben Sie denen?«, fragte er. Nur der Ort weckte seinen Argwohn, nicht der Sachverhalt selbst: Das kam oft genug vor.
»Ja«, sagte sie. »Ich habe jemand gefragt, den ich kenne. Die haben das Foto nicht in den Computer eingescannt, und die Akte ist nicht mehr aufzufinden.« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. »Das hier ist alles, was wir haben.«
Das Gesicht, umrahmt von langen Koteletten und einer zotteligen Frisur, wie Gorini sie zur Zeit der Aufnahme getragen haben mochte, war zwar ausdruckslos, aber ansehnlich und ebenmäßig; die dunklen, schräg stehenden Augen und die markanten Wangenknochen erinnerten an einen Tatarenkrieger. Die Nase war lang und ein wenig schief, der Knochen an der Wurzel verdickt. Der Mund war kräftig, aber wohlgeformt. Insgesamt, musste Brunetti zugeben, eine beeindruckend männliche Erscheinung. Er konnte sich nicht erinnern, diesen Mann jemals in der Stadt gesehen zu haben.
Er zeigte auf das Foto. »Geben Sie bitte einigen von Scarpas Eleven Kopien davon – ohne dem Tenente etwas davon zu sagen.« Er sah, dass sie etwas entgegnen wollte, und erklärte: »Sagen Sie ihnen, es handle sich um ein altes Foto von jemand, der in der Stadt lebt, und sie sollen nur so zur Übung einmal ausprobieren, ob sie ihn aufspüren können.«
Sie lächelte. »Den Tenente an der Nase herumzuführen – und sei es nur ein kleines bisschen – ist mir immer ein Vergnügen.«
11
Bevor er sich verziehen konnte, fragte Signorina Elettra: »Sind Sie noch an Signor Fontana interessiert?«
Fontana? Fontana? Was hatte dieser Name mit Vianellos Tante zu tun? Dann fiel es ihm wieder ein – dieser »äußerst korrekte Mann«. »Ah, ja. Natürlich.«
»Sie sagten ja, dass er Gerichtsdiener am Tribunale ist, das war leicht zu finden. Er arbeitet dort seit fünfunddreißig Jahren, lebt bei seiner Mutter, unverheiratet. Hat nie einen Tag wegen Krankheit versäumt. Er ist nur ein einziges Mal nicht zur Arbeit erschienen, an dem Tag, als sein Vater begraben wurde, vor vierunddreißig Jahren.«
Brunetti hob eine Hand, um ihren Redefluss zu stoppen.
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