Auf Umwegen ins Herz
zaghaft die Unterhaltung. Ich dachte angestrengt nach, auf welche Schule er damals wechselte. Er hatte beim letzten Mal eine neue Schule erwähnt, doch welche es war, wusste ich nicht.
Julians Antwort jedoch war so ganz anders, als erwartet. Eigentlich dachte ich immer, er würde etwas Technisches machen. Oder etwas Handwerkliches. „Ich arbeite als Kinder- und Jugendpsychologe.“
Mir klappte die Kinnlade nach unten, und ich starrte ihn ungläubig an. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht mit einem sozialen Beruf. Schon gar nicht, dass er mit Kindern und Jugendlichen zu tun hatte.
„Echt wahr?“
„Echt wahr!“
„Und was … wie …?“
„Ich arbeite speziell mit Fällen, bei denen es zu Alkohol- und Drogenmissbrauch kommt. Häusliche Gewalt und Verlustbewältigung, besonders nach Tod und Scheidung, fallen ebenfalls in mein Fachgebiet.“ Stolz schwang in seiner Stimme mit.
„Wow. Ich bin schwer beeindruckt, Julian!“
Er grinste schief und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Nun ja …“
Lief er etwa gerade rot an? Süß!
„Ich liebe meine Arbeit, auch wenn sie mich oft an meine Grenzen bringt. Es ist schlimm, wie es in manchen Kids heutzutage aussieht. Mit welchen Problemen junge Menschen zu kämpfen haben … das geht mir sehr nahe.“ Sein Blick trübte sich etwas und schweifte in die Ferne, als ob er an einem anderen Ort wäre. „Wenn ich ihnen zuhöre und ihnen das Gefühl geben kann, dass sie ernst genommen werden, macht mich das glücklich. Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen.“
Da hatten wir wohl was gemeinsam.
„Das hört sich schön an. Ich könnt mir nicht vorstellen, einen sozialen Beruf zu haben. Ich denke, ich hätt nicht den Mut, anderen Menschen meine Hilfe anzubieten, aus Angst, ihre Probleme zu vergrößern und nicht kleiner zu machen.“
Der Weg, den wir entlang gingen, schien eine endlose Gerade zu sein. Julian machte zwei schnelle Schritte voraus, drehte sich plötzlich um und ging nun im Rückwärtsgang, mit den Händen in den Hosentaschen, vor mir her. Er sah mir in die Augen, als er weitererzählte, und ich hing fasziniert an seinen Lippen.
„Die Angst habe ich auch hin und wieder. Doch wenn ich sehe, wie dankbar sie sind, macht es das wieder wett. Es gibt mir Kraft. Dann weiß ich, ich mache es gut. Manchmal genügt es schon, dass du ihnen zuhörst und sie ernst nimmst mit ihren Problemen. Viele Kinder und Jugendliche kommen aus einem Umfeld, das du dir nicht vorstellen kannst, und sie sind meist auf sich alleine gestellt. Die Eltern kümmern sich lieber um sich selbst und ihre Suchtmittel. Die Kinder sind für sie nur ein lästiges Anhängsel.“
„So was ist schrecklich – das kann ich mir kaum vorstellen.“ Diese Beschreibung stimmte mich traurig, und ich bewunderte ihn für die Stärke, die er für den Beruf aufbrachte. „Meine Mutter hatte zwar auch wenig Zeit für mich, doch unsere gemeinsame nutzten wir dafür umso intensiver.“
Julian musterte mich mit durchdringendem Blick. Zu gern hätte ich jetzt gewusst, was er dachte. Dann drehte er sich erneut um die eigene Achse und ging wieder neben mir. „Was ist?“, fragte ich verunsichert.
„Nichts … ich … so, wie das klingt, hattest du eine schöne Kindheit.“
„Du etwa nicht?“ Gleich darauf biss ich mir auf die Zunge. Sein Blick sprach eigentlich Bände, doch ich konnte ja mal wieder nicht meine Klappe halten.
Seine Antwort war knapp und kam gepresst über die Lippen. „Meine Eltern mussten viel arbeiten.“
Schnell versuchte ich, das Thema wieder auf sicheres Terrain zu lenken. „Was machst du in der Zeit, wo du arbeitest, mit Neele? Begleitet sie dich ins Büro?“ Als hätte sie gemerkt, dass ich von ihr sprach, drehte sich die Hündin zu mir um und sah mich mit einem treuherzigen Blick an.
Julian ging sofort mit einem Lächeln auf meine Frage ein. „Ja, Neele ist immer dabei. Viele meiner Patienten sprechen besonders auf sie an und öffnen sich mir erst, wenn sie eine Beziehung zu dem Hund aufgebaut haben.“
Puh, gerade noch mal so die Kurve gekriegt.
Ich beobachtete den Hund, wie er gerade einer Fährte zu folgen schien. „Sie scheint sehr friedlich zu sein …“
„Ja, das ist sie allerdings. Sie ist ein tolles Mädchen. Ein Leben ohne sie kann ich mir nicht mehr vorstellen.“
„Wie alt ist sie?“
„Im Herbst wird sie fünf.“
„Und wie bist du zu dem Job gekommen? Hast du das studiert? Ich hätte erwartet, dass du einen technischen
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