Auf zehn verschlungenen Wegen einen Lord erlegen
Isabel auf. „Lara, du hattest recht.“
„Ja?“
„Dieses dumme Journal ist ein Zeichen.“
„Ach.“ Nun schien Lara vollends verwirrt.
„Aber ja!“ Isabel schob das Heft beiseite, nahm sich ein Blatt Papier und griff zur Feder.
„Aber ich dachte …“
„Ich auch. Und doch ist es so.“
„Aber …“ Sichtlich ratlos hielt Lara inne und sagte das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam. „Hast du nicht eben gesagt, dass London etwas weit weg ist?“
Isabel hielt inne und sann nach. „Dann müssen wir eben umso überzeugender sein, dass auch der weiteste Weg sich lohnt.“
3. KAPITEL
Erste Lektion
Versuchen Sie keinen allzu bleibenden ersten Eindruck zu hinterlassen.
Um sich Ihren Lord zu angeln, sollten Sie zu sehen, doch nicht unbedingt zu hören sein. Übertreiben Sie es zu Beginn nicht mit der Konversation – Sie wollen ihn ja nicht mit der Flut Ihrer Gedanken überwältigen! Auch wenn Ihnen dies schwerfallen mag, lohnt es doch die Mühe, liebe Leserin. Stille Anmut reicht erfahrungsgemäß hin, um einen Lord zu erlegen.
Perlen und Pelissen
Juni 1823
N ick war weit herumgekommen und rühmte sich gemeinhin, auch den unspektakulärsten Orten noch einen Reiz abgewinnen zu können. Jahrelang war er über den Kontinent gezogen – doch nicht Wien, Paris oder Prag hatten es ihm angetan, sondern die stillen, abgeschiedenen Dörfer. Danach war er weiter gen Osten gereist, hatte den verborgenen Charme der auf den ersten Blick schäbigen osmanischen Basare entdeckt und sich des einfachen Lebens in den hintersten Winkeln des Orients erfreut.
Als er mit wenig mehr als seinen Kleidern am Leib aus der Türkei geflüchtet war und zu Fuß das hellenische Bergland durchquert hatte, waren Wochen vergangen, während derer Nick auf eine warme Mahlzeit, ein Bett, ein Bad und jeglichen Luxus hatte verzichten müssen. Trotz dieser Beschwernisse hatte er damals seine Leidenschaft für die Kunst der Antike entdeckt.
Überhaupt dürfte es auf seinen Reisen noch keinen Ort gegeben haben, der für ihn nicht die eine oder andere Besonderheit gehabt hätte.
Doch das Dörfchen Dunscroft führte ihn an seine Grenzen. Sosehr er sich auch mühte, ließ sich doch nichts finden, das der Beachtung wert gewesen wäre.
Nick und Rock standen im Hof des einzigen Gasthofs vor Ort und warteten darauf, dass ihre Pferde gebracht würden. Seit einer halben Stunde warteten sie schon, und nach kurzer morgendlicher Betriebsamkeit war auf der staubigen Dorfstraße wieder Ruhe eingekehrt. Leise seufzend trat Nick von einem Fuß auf den anderen, als sich schließlich doch noch etwas tat: Die Tür der Metzgerei ging auf, und heraus kam ein schlaksiger Junge. Auf seinen Armen türmten sich unförmige, in braunes Papier gewickelte Pakete, von denen eines sogleich herabfiel. Als der Junge sich danach bückte, geriet der ganze Stapel ins Schwanken.
Es war das Spannendeste, was sich seit ihrer Ankunft vor zwei Tagen ereignet hatte.
„Zehn Shilling, dass er noch eins fallen lässt, ehe er beim Kurzwarenhändler vorbei ist“, sagte Nick.
„Zwanzig“, erhöhte Rock.
Der Junge passierte den Laden ohne weitere Vorkommnisse.
„Und, endlich so weit, nach London zurückzukehren?“, fragte Rock und steckte seinen Gewinn ein.
„Noch nicht.“
„Können wir wenigstens Yorkshire verlassen?“
„Nicht, solange wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass sie Yorkshire verlassen hat.“
Rock atmete tief durch und wippte auf den Fersen. Nach einer Weile meinte er: „Genau genommen hattest du dich verpflichtet, dieses Mädchen zu finden. Mich hält hier nichts. Selbst in Ankara ließ es sich besser aushalten als hier.“
Nick hob eine dunkle Braue. „Das scheint mir etwas übertrieben, wenn man bedenkt, welcher Empfang uns zuletzt bereitet wurde.“
„Was wir allein dir zu verdanken hatten“, brummte Rock. „Wir könnten zumindest nach York ziehen. Dieser Gasthof – wenn man ihn denn so nennen kann – ist gelinde gesagt schrecklich.“
Nick lächelte. „Weißt du was, Rock? Du bist ein ziemlicher Dandy geworden.“
„Und dann heißt er auch noch ‚Zum gepökelten Schwein‘!“
„Meinst du, in York würden wir eine noch interessanter benannte Herberge finden?“
„Ich meine, dass wir dort eine bessere Herberge finden würden.“
„Mag sein, doch der letzte Stand der Dinge ist, dass sie hierher wollte“, sagte Nick. „Wo ist dein Abenteuergeist beblieben?“
Rock schnaubte gereizt und sah zu den Stallungen hinüber.
Weitere Kostenlose Bücher