Auferstehung 1. Band
der Verlesung aufzuhören, und erklärte:
»Der Gerichtshof hält diese Verlesung für unnötig!«
Der Aktuar schwieg sofort und legte die Blätter des Protokolls zusammen, während sich der Staatsanwalt mit zorniger Miene etwas notierte.
»Die Herren Geschworene» können jetzt von den Beweisstücken Kenntnis nehmen,« sagte der Präsident.
Eine große Anzahl der Geschworenen erhoben sich und näherten sich dem Tische, wo sie sich den Ring, die Pokale und den Filter ansahen. Der Kaufmann wagte es sogar, den Ring an den Finger zu stecken und sagte zu Nechludoff, während er wieder auf seinen Platz zurückging:
»Na, das ist ein Finger! So dick wie 'ne Gurke!«
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Als die Geschworenen die Beweisstücke betrachtet hatten, erklärte der Präsident die Beweisaufnahme für geschlossen und erteilte sofort dem Staatsanwalt das Wort. Er sagte sich, auch der Staatsanwalt sei ein Mensch, auch er wolle sicherlich rauchen und essen und würde deshalb mit den Anwesenden Mitleid haben. Doch der Staatsanwalt hatte weder mit sich, noch mit den andern Mitleid. Dieser von Hause aus dumme Beamte hatte außerdem das Unglück, daß er das Gymnasium mit einer goldenen Medaille verlassen und später auf der Universität für seine Dissertation über »Die Knechtschaft im Römischen Recht« einen Preis erhalten hatte; deshalb war er im höchsten Grade eingebildet, eitel und selbstbewußt, wozu seine Erfolge bei den Frauen übrigens noch beigetragen hatten; und die Folge von all' dem war, daß seine natürliche Dummheit einen ungeheuren Umfang angenommen hatte.
Als der Präsident ihm das Wort erteilt, erhob er sich langsam, legte die Hände auf sein Pult, neigte den Kopf, warf einen langen Blick auf die Anwesenden, mit Ausnahme der Angeklagten und begann seine Rede, die er während der Verlesung der Protokolle entworfen:
»Der Ihrem Urteil unterbreitete Fall, meine Herren Geschworenen, bildet, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein ganz besonders charakteristisches Beispiel des Verbrechertums.«
Die Anklage des Staatsanwalts mußte wohl seiner Ansicht nach eine allgemeine Tragweite haben, und insofern den berühmten Reden gleichen, die den Ruhm der großen Advokaten begründet hatten. Seine Zuhörerschaft bestand zwar an diesem Tage nur aus Köchinnen, Näherinnen, Kutschern und Laststrägern, doch dieser Umstand konnte ihn nicht aufhalten. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, sich stets, wie er sagte, »zum Gipfel der Fragen zu erheben«, aus jedem Vergehen die psychologische Bedeutung auszulösen und die soziale Wunde, die dieses Vergehen ausdrückte, bloßzulegen.
»Meine Herren Geschworenen, Sie sehen ein durch und durch typisches Verbrechen unserer Jahrhundertswende vor sich, das sozusagen alle spezifischen Züge des eigentümlichen moralischen Zersetzungsprozesses an sich trägt, der heute zahlreiche Elemente unserer Gesellschaftsklasse ergriffen hat ...«
Der Staatsanwalt sprach in diesem Tone längere Zeit, Er hatte während seiner Rede vornehmlich zweierlei im Auge: erstens bemühte er sich, alle auf den Fall bezüglichen Thatsachen, große wie kleine, zu erwähnen; andererseits hielt er nicht eine Minute inne, so daß seine Rede ununterbrochen mindestens 1 1/4 Stunde dahinfloß. Einmal mußte er aber doch innehalten, weil er den Faden seiner Beweisführung verloren hatte; doch gleich darauf begann er von neuem und holte diese augenblickliche Störung durch doppelte Beredsamkeit wieder ein. Er sprach bald mit einschmeichelnder Baßstimme, bald in natürlichem, gesetztem Tone, bald mit begeisterter Donnerstimme. Nur den Angeklagten, die alle drei die Angen auf ihn richteten, ward nicht die Ehre eines Blickes zu teil. Seine Anklagerede strotzte von den neuesten Formeln, die in seinem Kreise Mode waren und damals für die höchste Wissenschaft galten, ja selbst heute noch dafür gelten. Es war darin von Erblichkeit, von angeborener Neigung zum Verbrechen, von Lombroso und Tarde, von Entwickelung, dem Kampf um's Dasein, von Charcot und Entartung die Rede.
Der Kaufmann Smjelkoff war nach der Erklärung des Staatsanwalts der Typus des natürlichen, kraftstrotzenden Russen, der durch seine Vertrauensseligkeit und Freigebigkeit das Opfer höchst verrohter Geschöpfe geworden war, in deren Hände er gefallen war. Simon Kartymkin war das atavistische Produkt der alten Leibeigenschaft, ein unbeholfener Mensch, ohne Erziehung, ohne Grundsätze, ohne Religion. Euphemia Botschkoff, seine Geliebte, war ein Opfer der Erblichkeit;
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