Auferstehung
irgendwoher zu kennen. »Ach?«, sagte er schließlich. »Dann sind Sie ein seltenes Exemplar. Heutzutage gehen nicht viele Engländer nach Russland, und noch viel weniger möchten die Sprache lernen! Ist Ihr Besuch geschäftlich, oder ...?«
»Reines Vergnügen«, schnitt ihm Keogh das Wort ab. »Darf ich reinkommen?«
Shukshin wollte ihn eigentlich nicht im Haus haben und hätte es vorgezogen, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Gleichzeitig wollte er aber mehr über ihn herausfinden. Er trat beiseite, und Keogh kam herein. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, klang es für ihn wie ein zuklappender Sargdeckel. Er konnte den Widerwillen des Russen beinahe fühlen, konnte seinen Hass fast schmecken. Aber warum sollte Shukshin ihn hassen? Er kannte ihn doch nicht einmal.
»Ich habe Ihren Namen wohl nicht mitbekommen«, sagte der Russe und führte ihn in sein Arbeitszimmer.
Darauf war Keogh vorbereitet. Er zögerte einen Augenblick, folgte ihm, bis sie das luftige Arbeitszimmer mit dem durch die Terrassenfenster hereinflutenden Tageslicht erreicht hatten, und sagte dann: »Ich heiße Harry. Harry Keogh ... Stiefvater.«
Vor ihm hatte Shukshin fast seinen Schreibtisch erreicht. Er erstarrte; stocksteif, als wäre er zu Stein verwandelt worden, und wandte sein Gesicht dann seinem Besucher zu. Keogh hatte eine ähnliche Reaktion erwartet, wenn auch nicht ganz so dramatisch. Das von dem dunklen Haar und Bart umrahmte Gesicht des Mannes war nun kalkweiß. Seine wulstigen Lippen bebten in einer Mischung aus Angst, Schock ... und Wut?
»Wie?« Seine Stimme war nun rau, ein Keuchen. »Was sagen Sie? Harry Keogh? Ist das irgendein kranker ...?« Aber dann schaute er genauer hin und begriff, warum er geglaubt hatte, diesen Jungen schon einmal gesehen zu haben. Harry war damals noch ein Kind gewesen, aber er hatte dieselben Gesichtszüge. Ja, er kam ganz nach der Mutter. Nun, da er wusste, wer er war, war die Ähnlichkeit nur noch erstaunlicher. Außerdem schien der Junge etwas von ihrem unbändigen Talent mitbekommen zu haben. Ihr Talent! Der Junge hatte die Gabe, er war ein Medium, und er hatte es von seiner Mutter geerbt! Das war es! Das hatte Shukshin in ihm erfassen können – die Echos des Talents seiner Mutter!
»Stiefvater?«, sagte Keogh und heuchelte Betroffenheit. »Ist alles in Ordnung?« Er bot ihm eine Hand an, aber Shukshin wich zurück an den Schreibtisch. Er hangelte sich an der Tischplatte entlang und plumpste auf den Stuhl. »Es ist ein ... Schock. Ich meine, dich zu sehen, hier, nach all den Jahren.« Er bekam sich in den Griff, seufzte erleichtert und atmete tiefer, freier durch. »Ein großer Schock.«
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, log Keogh. »Ich habe gedacht, du würdest dich freuen, mich zu sehen, zu erfahren, ob es mir gut geht. Ich fand, dass es an der Zeit wäre, dich kennenzulernen. Ich meine, du bist die einzige richtige Verbindung, die ich zur Vergangenheit habe, meiner frühen Kindheit – meiner Mutter.«
»Deine Mutter?« Shukshin ging automatisch in die Defensive. Sein Gesicht gewann ein wenig Farbe zurück, während er sich um Fassung bemühte. Offensichtlich waren seine Befürchtungen, von der britischen ESP-Agentur entdeckt worden zu sein, unbegründet. Keogh stattete ihm einfach einen verspäteten Besuch ab, kehrte zu seinen Wurzeln zurück; er war ernsthaft an seiner Vergangenheit interessiert. Aber wenn das stimmte ...
»Weswegen dann der ganze Unsinn, du wolltest Deutsch und Russisch lernen?«, schnappte Shukshin. »War es nötig, das alles aufzuführen, nur um mich zu sehen?«
»Tja«, antwortete Keogh mit einem Schulterzucken, »ich gebe zu, das war nur eine Finte, um dich zu sehen – aber es war nicht böse gemeint. Ich wollte nur ausprobieren, ob du mich erkennst, bevor ich dir sage, wer ich bin.« Er hielt das Lächeln auf seinem Gesicht. Shukshin hatte sich wieder unter Kontrolle, sein Ärger war überdeutlich und machte sein Gesicht hässlich. Der Moment schien geeignet, eine zweite Bombe platzen zu lassen. »Außerdem spreche ich Deutsch und Russisch viel fließender als du, Stiefvater. Ich könnte dir wirklich noch was beibringen.«
Shukshin bildete sich allerhand auf seine sprachlichen Fähigkeiten ein. Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Was redete dieser Wicht da, ihm was beibringen? Hatte er den Verstand verloren? Shukshin hatte Sprachen unterrichtet, bevor Harry Keogh überhaupt geboren wurde! Russischer Stolz siegte über seine
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