Auferstehung
In Rumänien gab es heute noch ebenso viele Roma wie damals. Trotz ihres Schicksals als Spielbälle der Geschichte hatten die alten Länder Walachei, Moldawien, Siebenbürgen und die restlichen Gegenden sich einen Teil ihrer Autonomie bewahrt. Die Roma hatten ebenso ein Recht, hier zu sein, wie die Berge selbst.
Dies waren Dragosanis Gedanken gewesen, als er einschlief, doch träumte er dann nicht von seinen Eltern, sondern von Szenen seiner Kindheit, bevor man ihn aus Rumänien fortgeschickt hatte, um seine Ausbildung zu vollenden. Er war damals schon ein Einzelgänger gewesen, und manchmal wanderte er zu Orten, die andere fürchteten. Oder die ihnen verboten waren ...
Der Wald war tief und dunkel, und der Pfad war so verschlungen wie eine Achterbahn auf dem Jahrmarkt. Boris hatte erst einmal eine Achterbahn gesehen, vor drei Tagen an seinem siebten Geburtstag (dem siebten Jahrestag seines ›Fundes‹, wie sein Pflegevater es ausdrückte), als er nach Dragosani in das kleine Kino eingeladen worden war. Der russische Kurzfilm bestand nur aus Aufnahmen von Karussellen auf Jahrmärkten, und die Achterbahn wirkte so echt, dass Boris vor Schwindel fast vom Stuhl gefallen wäre. Er fand es gleichzeitig ängstigend und aufregend; so sehr, dass er ein Spiel erfand, um den Nervenkitzel der Achterbahn nachzuahmen. Natürlich war es nicht so gut und setzte auch schwere Arbeit voraus, aber es war besser als nichts. Und man konnte es genau hier tun, auf den Hängen der Waldhügel, keine zwei Kilometer vom Hof entfernt.
Dies war ein Ort, den niemand je betrat, ein völlig einsamer Ort, weshalb Boris ihn auch so sehr mochte. Hier war seit fast fünfhundert Jahren kein Baum mehr gefällt worden, und kein Wildhüter hatte je die mit Kiefern bewachsenen Hügel betreten. Nur selten gelangte ein Sonnenstrahl dorthin, um die staubige Finsternis zu beleuchten. Nur das gedämpfte Gurren und gelegentliche Flattern von Wildtauben und das Rascheln von kleinen, kriechenden Kreaturen störten die tiefe Stille. Dies war ein Ort tanzender Staubflocken, von Tannenzapfen und Nadeln, von Pilzen und einigen flinken, merkwürdig lautlosen Eichhörnchen.
Die Hügel befanden sich am Rand der alten walachischen Ebene und erstreckten sich bis zu den Füßen der Alpen, die zweiundsiebzig Kilometer entfernt waren. Sie formten ein Kruzifix, dessen Senkrechte sich fast drei Kilometer von Nord nach Süd und dessen Waagerechte sich fast einen Kilometer von Ost nach West erstreckte. Die umliegenden Felder wurden von Mauern unterteilt, von Hecken und Zäunen und gelegentlich von engen Alleen. Doch die Felder, die sich in unmittelbarer Nähe des Hügelkreuzes befanden, waren unbestellt, und dort wuchsen nur wilde Gräser und hohe, grüne Disteln. Ab und an ließ Boris’ Pflegevater seine Pferde oder Rinder dort grasen, doch nicht sehr oft. Selbst die Tiere mieden den Ort; sie scheuten häufig grundlos und brachen manchmal durch Zäune oder sprangen über Hecken, um von jenen wilden, allzu stillen Feldern fortzukommen.
Doch für den kleinen Boris Dragosani war dieser Ort etwas völlig anderes. Er konnte hier auf Großwildjagd gehen, in das unerforschte Innere des Amazonasgebietes vordringen, nach den verlorenen Städten der Inka suchen. Er konnte all das tun und mehr noch – vorausgesetzt, dass er seinen Pflegeeltern nie sagte, was er spielte. Oder besser: wo er spielte. Denn trotz des Verbotes faszinierte ihn der Wald. Etwas war darin verborgen, das ihn anzog wie ein Magnet.
So auch jetzt, als er auf den steilen Abhang im Zentrum des Kreuzes kletterte. Er hangelte sich von Baum zu Baum und zog hinter sich die große Pappkiste her, die er als Wagen benutzte, seine Achterbahn ohne Räder. Es war ein langer Weg, ja, aber er war es wert. Einmal noch würde er fahren, diesmal vom Gipfel selbst herab, bevor er sich auf den Heimweg machte. Die Sonne hing tief am Himmel, und er würde sowieso zu spät kommen, also konnte eine letzte Fahrt auch nicht mehr schaden.
Am Gipfel machte er Pause und schöpfte Atem, setzte sich einen Augenblick lang hin und schlug Fliegen tot, die in den blassen Sonnenstrahlen tanzten. Dann zog er die Kiste an eine Stelle, wo eine Bahn deutlich bis nach unten verlief. Vor vielen Jahren war hier eine Feuerschneise gefällt worden, bevor die Feuerwehrmänner über diesen Ort Bescheid gewusst hatten. Die frischen Schösslinge hatten diese Narbe noch nicht wieder bedecken können. Nun sollte die Schneise als Bahn für Boris’ waghalsige
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