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Auferstehung

Auferstehung

Titel: Auferstehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
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auch. Was das ›Mein Herr‹ angeht – würden Sie ›Genosse‹ vorziehen?«
    »Um Himmels willen, nein! Nur das nicht!«, entgegnete Dragosani sofort. »›Mein Herr‹ geht völlig in Ordnung, vielen Dank.« Auch er lachte. »Na, dann zeigen Sie mir mal Ihr Englisches Zimmer ...«
    Kinkovsi führte ihn von dem großen Wolga zu dem hohen Gasthaus mit Spitzdach. »Zimmer?«, murrte er. »Ich habe viele Zimmer! Vier auf jedem Stockwerk. Sie können eine ganze Suite haben, wenn Sie möchten.«
    »Eins reicht völlig«, antwortete Dragosani, »solange es ein eigenes Bad und eine Toilette hat.«
    »Ah ja – en suite heißt das, nicht wahr? Also, dann rauf zum obersten Stock. Ein Dachzimmer mit eigenem Klo und Bad. Sehr modern.«
    »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Dragosani freundlich.
    Er sah, dass die Mauern des Hauses auf einem Fundament aus sandfarbenem Zement ruhten. Wegen der Feuchtigkeit vermutlich. Doch die oberen Geschosse bestanden noch aus den ursprünglichen Steinmauern. Das Haus musste mindestens dreihundert Jahre alt sein. Wie angemessen. Es führte ihn drei Jahrhunderte zurück – zu seinen Wurzeln und darüber hinaus.
    »Wie lange waren Sie fort?«, fragte Kinkovsi, als er ihn hineinließ und ihm ein Zimmer im Erdgeschoss zeigte. »Fürs Erste müssen Sie hier bleiben«, erklärte er, »bis ich das Dachgeschoss gerichtet habe. Ein oder zwei Stunden, das ist alles.«
    Dragosani streifte die Schuhe von den Füßen, hängte seine Jacke über einen Holzstuhl und ließ sich auf das Bett fallen, das durch ein ovales Fenster von der Sonne beschienen wurde. »Ich war mein halbes Leben lang fort«, sagte er. »Aber es ist immer wieder schön, nach Hause zu kommen. Ich war die letzten vier Sommer hier, und vier stehen noch aus.«
    »Ach? Haben Sie Ihre Zukunft schon so verplant? Vier stehen noch aus? Das hört sich so endgültig an. Was meinen Sie damit?«
    Dragosani legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah sein Gegenüber an, wobei seine Augen sich im Sonnenlicht zu Schlitzen verengten. »Nachforschungen«, sagte er schließlich. »Lokalgeschichte. Bei nur zwei Wochen im Jahr dürfte ich noch weitere vier Jahre brauchen.«
    »Geschichte? Dieses Land ist voll davon! Aber das ist doch nicht Ihre Arbeit, oder? Ich meine, Sie verdienen damit nicht Ihre Brötchen?«
    »Nein.« Dragosani schüttelte den Kopf. »In Moskau arbeite ich als ... Leichenbeschauer.« Was noch nicht mal eine Lüge war.
    »Hmm!«, grunzte Kinkovsi. »Jedem das Seine. So, ich werde nun Ihr Zimmer vorbereiten gehen. Und die Vorkehrungen fürs Essen treffen. Wenn Sie aufs Klo müssen, das ist draußen auf dem Gang. Ruhen Sie sich erst mal aus ...«
    Als keine Antwort kam, warf er einen Blick auf Dragosani und sah, dass dessen Augen geschlossen waren – der warme Sonnenschein und die Stille des Zimmers hatten ihre Wirkung hinterlassen. Kinkovsi nahm die Autoschlüssel seines Gastes, die dieser vor dem Bett hatte fallen lassen, verließ leise das Zimmer und schloss sanft die Tür. Ein letzter Blick, bevor er ging: Das Heben und Senken von Dragosanis Brust hatte den langsamen Rhythmus des Schlafes angenommen. Das war gut. Kinkovsi nickte vor sich hin und lächelte. Offenbar fühlte sein Gast sich hier zu Hause.
    Dragosani wählte jedes Mal, wenn er hierherkam, eine andere Unterkunft. Stets im Umkreis des Städtchens, das er seine Heimat nannte, doch nicht in allzu großer Nähe seines letztjährigen Aufenthaltsortes. Er hatte daran gedacht, einen Decknamen zu benutzen, diese Idee aber wieder verworfen. Er war stolz auf seinen Namen und dessen Herkunft. Nicht wegen Dragosani, dem Dorf, seiner geografischen Herkunft, sondern weil er dort gefunden worden war. Was seine Eltern betraf: Sein Vater war der fast unbezwingbare Bergkamm hoch oben im Norden, die Siebenbürger Alpen, und seine Mutter war die fruchtbare, dunkle Erde selbst.
    Dragosani hatte eine Theorie über seine leiblichen Eltern, und was sie getan hatten, war vermutlich das Beste gewesen. Er stellte sie sich als Roma vor; junge Liebende aus sich bekämpfenden Stämmen, deren Liebe nicht die Macht gehabt hatte, die alten Streitigkeiten zu schlichten. Doch sie hatten sich geliebt, und Dragosani war geboren und ausgesetzt worden. Vor drei Jahren hatte er sogar vorgehabt, diese unbekannten Eltern zu suchen, und genau das war der Grund für ihn gewesen, hierherzukommen. Doch hatte sich das als völlig aussichtslos erwiesen. Ein gewaltiges, ein unmögliches Unterfangen.

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