Auferstehung
nadelbedeckten Steinplatten, die von knorrigen Wurzeln nach oben gedrückt wurden, fort von dem eingestürzten Grab und den Geheimnissen, die es in sich bergen mochte, fort von der Finsternis dieses Ortes, die ihn so bedrängte, als wäre sie ein körperhaftes Wesen.
Und als er unter den dunklen Bäumen den Hügel hinablief, gepeitscht von Ästen und von jedem Sturz aufs Neue verwundet, kicherte die Stimme in seinem Kopf wie eine Feile auf Glas oder Kreide auf einer Tafel, obszön und von uraltem Wissen erfüllt. »Ja, lauf – lauf! Doch vergiss mich nicht, Dragosani. Und sei versichert, dass auch ich dich nicht vergessen werde. Nein, denn ich werde auf dich warten, bis du stark genug bist. Und wenn in deinem Blut Eisen fließt und du weißt, was zu tun ist – denn es muss aus deinem freien Willen geschehen, Dragosani –, dann werden wir weitersehen. Und nun muss ich schlafen ...«
Boris rannte aus dem Unterholz am Fuß des Hügels und stolperte über einen niedrigen Zaun, dessen oberster Sparren zerbrochen war. Er flog kopfüber in hohes Gras und Disteln und ins heilige, gesegnete Licht! Doch selbst da hielt er nicht inne, sondern rappelte sich wieder auf und rannte nach Hause. Erst in der Mitte des Feldes, als ihm der Atem ausgegangen war, machte er halt, brach zusammen und wandte das Gesicht zurück zu den bedrohlichen Hügeln.
Im Westen ging die Sonne unter, und ihre letzten Lichtspeere tauchten die Spitzen der Tannen in Gold. Boris aber wusste, dass an diesem geheimen Ort, in jenem von Bäumen verhüllten Grab, alles feucht und kriechend und dunkel und grauenhaft war. Und erst da dachte er an die Frage: »Was ... wer ... wer bist du?«
Und wie aus endlos weiter Ferne drang die Antwort zu ihm, getragen von der Abendbrise, die seit Anbeginn der Zeit über die Hügel und Felder Siebenbürgens strich: »Ahhh! Aber das weißt du doch, Dragosani. Du weißt es. Frage nicht ›Wer bist du‹, sondern ›Wer bin ich?‹ Aber was zählt das schon? Die Antwort ist die gleiche. Ich bin deine Vergangenheit, Dragosani. Und du ... bist ... meine ... Zukunft! «
»Herr Dragosani?«
»Was ... wer ... wer bist du?« Als er die Frage aus seinem Traum wiederholte, erwachte er. Fast dreieckige Augen blickten ihn an, ohne zu blinzeln, leuchtend in der unerwarteten Dunkelheit des Raumes. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, sich wieder in dem Grab zu befinden. Doch dies waren grüne Augen, wie die einer Katze. Dragosani starrte sie an, und sie starrten unverfroren zurück. Diese Augen waren umrahmt von einem weißen Gesicht in einem Oval aus rabenschwarzem Haar.
Er setzte sich auf und schwang die Füße auf den Boden. Die Augen gehörten einer Frau in bäuerlicher Kleidung – unelegant, dachte Dragosani. Er schnauzte sie an. Er war immer gereizt, wenn er aufstand, ganz besonders dann, wenn er so wie jetzt aus dem Schlaf gerissen wurde.
»Sind Sie taub?«, fragte er und wies direkt auf ihre Nase. »Ich habe gefragt, wer Sie sind. Und warum hat man mich so lange schlafen lassen?« Er konnte äußerst widerborstig sein.
Sein anklagender Finger schien sie jedoch nicht im Mindesten zu beeindrucken.
Sie lächelte und hob leicht eine Augenbraue an, fast unverschämt. »Ich heiße Ilse, Herr Dragosani. Ilse Kinkovsi. Sie haben drei Stunden geschlafen. Da Sie offensichtlich sehr erschöpft waren, hat mein Vater mir aufgetragen, Sie schlafen zu lassen und das Zimmer in der Mansarde zu richten. Das Zimmer ist fertig.«
»Ach so? Und was wollen Sie jetzt von mir?« Dragosani verspürte keine Lust, höflich zu sein. Mit ihrem Vater hatte er nur gespielt, doch bei ihr war es anders, denn sie hatte etwas, das ihn wirklich irritierte. Sie war bei Weitem zu selbstsicher, zu wissend. Und zudem war sie auch noch hübsch. Sie musste um die zwanzig sein. Es war sonderbar, dass sie nicht verheiratet zu sein schien; jedenfalls war kein Ring an ihrem Finger.
Dragosani schauderte, sein Kreislauf war noch nicht richtig in Schwung. Sie sah es und sagte: »Oben ist es wärmer. Die Sonne scheint noch aufs Dach. Und das Treppensteigen wird Ihre Durchblutung fördern.«
Dragosani schaute sich im Zimmer um und wischte sich mit seinen zarten Fingern den Schlaf aus den Augenwinkeln. Er stand auf und klopfte auf die Tasche seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing. »Wo sind meine Schlüssel? Und ... meine Koffer?«
Sie lächelte wieder. »Mein Vater hat Ihre Koffer bereits nach oben gebracht. Hier sind Ihre Schlüssel.« Als ihre kühle
Weitere Kostenlose Bücher