Aufstand der Alten
Erzählungen Reisender unterhalten, wenn es auch gewöhnlich Lügengeschichten sind. Wenn Sie mir Lügen erzählen wollen, dann haben Sie bitte die Freundlichkeit, sie faustdick zu machen.«
»In meiner Kindheit«, sagte Martha ruhig, »erwartete man vom Gastgeber, daß er seine Besucher unterhielt, nicht umgekehrt. Aber in jenen Tagen beherbergten die Stätten des Geistes und der Bildung auch noch Höflichkeit und Manieren, statt Hühner und Rinder.«
Morton hob seine gefiederten Brauen und stellte sein Glas weg.
»Madam«, sagte er, »vergeben Sie mir. Wenn Sie sich wie eine Kuhhirtin kleiden, müßten Sie es gewohnt sein, für eine solche gehalten zu werden, nicht wahr? Jedem seine Exzentrizität! Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen von diesem Glühwein einschenke. Dann werden wir uns als Ebenbürtige unterhalten – jedenfalls, solange sich das nicht als voreilig erweist.«
Der Wein roch gut genug, daß es sich lohnte, den Hochmut in Mortons Rede zu überhören. Graubart deutete das an.
»Er trinkt sich ganz gut«, warf einer der anderen Anwesenden hin – ein dicker Mann mit einem talgig gelben Gesicht, den die anderen Gavin nannten. »Leider ist es nur ein selbstgezogenes Gewächs. Wir haben die letzten Flaschen aus dem Keller geholt, als der Dekan bestattet wurde.«
Bei der Erwähnung des Dekans neigten die drei Männer in gespielter Ehrerbietung ihre Köpfe.
»Nun, lassen Sie hören, was für eine Geschichte Sie haben, Fremder«, sagte Morton.
Graubart sprach kurz von ihren Jahren in London, von ihren Erlebnissen mit Croucher im nahen Cowley und von ihrer langen Zurückgezogenheit in Sparcot. Obwohl die Kollegiumsmitglieder das Fehlen offensichtlicher Lügen bedauerten, zeigten sie sich interessiert.
»Ich erinnere mich an diesen Kommandeur Croucher«, sagte Morton. »Für einen Diktator war er kein schlechter Kerl. Glücklicherweise gehörte er zu jenen Ungebildeten, die sich einen unbegründeten Respekt vor der Wissenschaft bewahrt haben. Vielleicht war seine Haltung gegenüber der Universität so erstaunlich zuvorkommend, weil sein Vater College-Bediensteter war. Ich entsinne mich, daß man sein Regime damals als historische Notwendigkeit betrachtete. Erst nach seinem Tod wurde es wirklich unerträglich. Crouchers Soldateska verwandelte sich in einen Plündererhaufen. Das war die schlimmste Zeit im ganzen elenden Halbjahrhundert unseres Niederganges.«
»Was ist aus diesen Soldaten geworden?«
»Was zu erwarten war. Zuerst brachten sie sich gegenseitig um, dann machte die Cholera reinen Tisch, dem Himmel sei Dank. Ein Jahr lang war Oxford eine tote Stadt. Die Colleges waren geschlossen. Ich übersiedelte in ein leerstehendes Landhaus vor der Stadt. Nach einiger Zeit kamen die Leute allmählich zurück. Dann, im gleichen Winter oder im nächsten, kam die Grippe.«
»Wir haben in Sparcot nur ein paar Grippefälle gehabt«, sagte Graubart.
»Da konnten Sie von Glück sagen, denn die Grippeepidemie hat nur wenige Bevölkerungszentren verschont.«
Sein Kollege, der sich mit Vivian anreden ließ, sagte: »Wir haben natürlich kein exaktes Zahlenmaterial, aber ich möchte die Schätzung wagen, daß in der Zeit, von der wir sprechen, also um das Jahr zweiundzwanzig, ein Rückgang der Bevölkerungszahl von etwa siebenundzwanzig Millionen auf zwölf Millionen zu verzeichnen war. Man kann sich leicht ausrechnen, daß diese Zahl in der seither vergangenen Dekade auf sechs Millionen geschrumpft sein muß, wenn man von der alten Sterblichkeitsrate ausgeht. In einer weiteren Dekade ...«
»Danke, Vivian, keine Statistiken mehr«, unterbrach Morton, um zu seinen Besuchern gewandt hinzuzufügen: »Oxford hat seit der Grippeepidemie ein überaus friedliches Leben geführt, wenn man von der Geschichte mit dem Balliol College absieht.«
»Was ist dort geschehen?« fragte Martha.
»Balliol wollte Oxford regieren, wissen Sie. Es fing mit einem ziemlich erbärmlichen Geschäft an, als Balliol im Bereich seines Grundbesitzes die rückständigen Mieten eintreiben wollte. Die betroffene Bevölkerung wandte sich mit der Bitte um Hilfe an das Christ Church College. Glücklicherweise konnten wir sie den Leuten geben.
Wir hatten damals einen ziemlich unmöglichen Artillerieoffizier bei uns, der hier Zuflucht gesucht hatte. Er hatte einmal einige Semester in diesem Haus studiert – ein armer Kerl, taugte für nichts als für die militärische Laufbahn. Aber er gebot über eine Granatwerferbatterie. Die stellte er auf und
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