Auge des Mondes
mit deinem Enkel sprechen?« Sie neigte sich tiefer zu der untersetzten Frau hinab.
»Wozu?« Plötzlich misstrauisch geworden, wich diese zurück. »Ich glaube nicht, dass er sich viel aus Märchen macht. Dazu ist er viel zu nüchtern. Das hat er von seinem Vater, meinem verstorbenen Sohn, die Götter mögen ihm gnädig sein, der war genauso. Und außerdem hab ich versprechen müssen, niemandem etwas davon zu sagen. Benia hat schon genug Schwierigkeiten am Hals. Wenn du vorhast, ihm noch größere zu machen …«
»Keine Angst!« Minas Lächeln geriet breit und beruhigend. »Schaden werde ich ihm gewiss nicht, darauf kannst du dich verlassen! Nur ein paar Worte mit ihm wechseln, das ist alles, was ich möchte. Zufällig weiß ich nämlich ganz gut, wie man mit jungen Burschen umgeht. Hab selber einen Neffen in diesem Alter, der für mich fast so etwas wie ein eigener Sohn ist.«
Die Frau schien sich zu entspannen. Jedenfalls war die tiefe Kerbe zwischen ihren Brauen verschwunden.
»Also, wo finde ich ihn, deinen schlauen Benia?«, fragte Mina.
»Im zweiten Speicher«, erhielt sie jetzt als Auskunft.
»Diese Woche ist er zur langen Schicht eingeteilt. Da wird er wieder so müde sein, dass er beim Essen einschläft.«
»Und wie erkenne ich ihn?«
»Nichts leichter als das! Er hat schon als Kind bei einem Unfall sein rechtes Auge eingebüßt.«
Dieses Mal brauchte sie keinen Karren, sondern konnte die Gaben bequem im Korb nach Hause tragen. Iset schlief, als sie einen Blick in ihr Zimmer warf, die mageren Beine angezogen wie ein Kind, die Arme fest um sich geschlungen, als müsse sie sich schützen. Der Mund stand halb offen. Sie schnarchte hingebungsvoll.
Mina zog die Türe vorsichtig zu, aß ein paar Löffel von dem kalten Gerstenbrei, der vom Morgen übrig geblieben war, und machte sich erneut auf den Weg. Die Straßen kamen ihr belebter vor, als sie sich dem Tempel näherte; es schien, als seien die ersten Pilgerinnen bereits in der Stadt eingetroffen. Noch ein paar Tage - und alles würde so überfüllt sein, dass man sich jeden Schritt außer Haus besser zweimal überlegte. Anstatt die große Prozessionsstraße zu nehmen, bog Mina in Richtung Hafen ab und war ein paar Augenblicke später bereits in das vertraute Gassengewirr eingetaucht. Hier befanden sich die Schuppen jener Steinmetze, die nicht in den großen, bestens ausgestatteten Tempelwerkstätten arbeiten konnten - ein Traum, den jeder von ihnen zu träumen begann, sobald er seinen ersten Meißel in der Hand hielt. Nur wer dauerhaft für den Tempel arbeitete, konnte es zu Wohlstand und Ehre bringen. Jeder, der seine Arbeit dort verlor, musste noch einmal ganz von vorn anfangen.
Mina hielt abrupt inne. Zwei Katzenkinder balgten sich mitten auf der Gasse, dunkel gestromte Fellknäuel, die nur aus Kopf und Krallen zu bestehen schienen, ineinander zu einer flaumigen Kugel verkeilt. Schließlich gelang es dem unteren, sich aus der misslichen Lage zu befreien. Es versetzte dem oberen einen Nasenstüber, der es zur Seite warf, und kletterte mit seinen kurzen Beinen frech über es hinweg.
Die Katzenmutter saß ein Stück abseits und schien das Treiben ihrer Sprösslinge leicht gelangweilt zu beobachten. Plötzlich aber stieß sie einen kurzen Ton aus, ein scharfes, unwilliges Raunzen, dem die Kleinen sofort folgten. Sie wurden flüchtig beleckt und wackelten danach mit erhobenen Schwänzchen hinter der Alten her.
Mina schaute ihnen gedankenverloren nach. Ob Bastet eines Tages in ihrem Haus Junge zur Welt bringen würde?
»Wenn du zu mir willst, hättest du dir den Weg sparen können!« Eine mürrische Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie gehörte Anchor, dem Steinmetz und Freund Chais.
»Sind das eure?«
»Und ob! Vor Kurzem hatten wir noch doppelt so viele, aber zum Glück ist das jetzt vorbei.«
»Ihr habt sie doch nicht etwa …«
»In einem zugebundenen Sack in den Fluss befördert? Manchmal war ich nah dran, das kann ich dir sagen, aber dann hat sich eine Nachbarin ihrer erbarmt. Meine katzensüchtige Frau hätte natürlich wieder am liebsten den ganzen Wurf behalten, da hat sie jedoch die Rechnung ohne mich gemacht. Hab keine Lust, bei jedem Schritt in Haus und Werkstatt auf quietschende Fellbündel zu treten.« Er schnäuzte sich ausgiebig. »Du kommst zu früh, Mina.«
»Soll das heißen, mein Geschenk für Chai ist noch nicht fertig?« Mina schaute dem unwilligen Steinmetz furchtlos in die Augen.
»Wie denn - wo ich jetzt
Weitere Kostenlose Bücher