Auge des Mondes
Mann klang kleinlaut. »Niemals?«
»Angst - wovor?«
»Dass uns alles über den Kopf wächst. Es könnte doch sehr leicht zu einer Katastrophe kommen, einer Massenerregung, die keiner mehr steuern kann. Diese vielen fremden Frauen, ihre Hoffnungen und Ängste, das Feuer - und wenn sie dann auch noch sehen, dass …«
»Sie werden es sehen!« Ein metallischer Glanz war in die Augen des zweiten Mannes gekommen. »Sie sollen es ja sehen, deshalb veranstalten wir es ja ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt! Was können sie schon dagegen unternehmen, außer zu weinen, zu schreien und zu toben? Unser Plan wird aufgehen, weil er perfekt ist, alter Freund! Sie werden genau das glauben, was wir wollen: dass die verhassten Fremden die Göttin schänden, indem sie ihr und ihnen das Liebste nehmen, was sie besitzen.«
»Und wenn sie nicht darauf hereinfallen?« Der erste Mann blieb beharrlich. »Wenn sie irgendwie vorher herausbekommen, dass wir es waren, und nicht die anderen, die all das angezettelt haben?«
»Was soll die Fragerei? Hast du wieder einmal nicht genügend geschlafen, oder hast du vielleicht schlecht geschissen?« Die Grobheit tat ihm gut. Am liebsten hätte er den anderen gepackt und geschüttelt, so satt hatte er ihn inzwischen, aber es war zu gefährlich und ohnehin zu spät, um einen anderen einzuweihen. Er würde ihn austauschen, sobald er sein Ziel erreicht hatte, das zweite, für ihn persönlich noch wichtigere Ziel, von dem der andere nichts ahnte - und auch bis zuletzt nichts ahnen durfte.
»Kommen wir lieber zu den wirklich wichtigen Dingen!«, sagte er und brachte das Kunststück fertig, versöhnlich zu klingen. »Die neuen Kräfte - wie machen sie sich?«
»Gar nicht so übel, alles in allem betrachtet«, sagte der erste Mann. »Besonders diejenigen aus der letzten Rekrutierung entwickeln großen Ehrgeiz. Es war dringend nötig, dass wir sie gewinnen konnten. Mit den alten allein wäre die Sache nicht zu stemmen gewesen.« Er schluckte. »Ich denke, wir sind jetzt allmählich genug.«
»Genug? Wir werden bald so viele sein wie die Sterne am Himmel! Und dann …« Der andere schien sich zu besinnen, zupfte an seinem Schurz. »Lass vorsichtshalber eine Sonderration an alle verteilen. Und noch einmal eine am Ausgang der kommenden Woche. Mir liegt daran, dass sie bei guter Laune bleiben und bis zum Schluss durchhalten.«
»Und danach?«
»Das lass meine Sorge sein! Ich werde dir rechtzeitig Bescheid geben.« Er kratzte seinen blanken Schädel. »Jene gewissen Papyrusrollen sind noch nicht wieder aufgetaucht?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Du hast überall gründlich nachgesehen?«
»Es gibt keine Stelle, die ich nicht mindestens zwei- oder dreimal durchstöbert hätte. Was ist eigentlich so wichtig an ihnen?«
»Sie könnten uns eine große Hilfe sein«, sagte der zweite Mann. »Denn vor uns gab es schon einmal jemanden, der einen ganz ähnlichen Plan verfolgt hat.«
»Wer sollte das gewesen sein? Und wieso höre ich heute zum ersten Mal davon?«
»Weil du deinen Verstand zurzeit für andere Dinge brauchst. Und weil unserem klugen Pläneschmied keine Zeit mehr blieb, seine Ideen zu verwirklichen.«
»Er wurde doch nicht etwa …« Die schmale Hand des ersten Mannes fuhr an den Hals und zog einen geraden Strich.
Der zweite nickte genüsslich.
»Kluger Kerl«, sagte er. »Genauso hat man ihn damals aufgefunden. Beziehungsweise das, was die Fische von ihm übrig gelassen hatten. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Und ihn dann im Herzen des Papyrusdickichts abgelegt.«
Als endlich der vierte und damit letzte Tag vor ihrer Unterredung mit Aryandes angebrochen war, steigerte sich Minas innere Unruhe zu fliegender Hitze. Isets köstliche warme Kuchen ließ sie nach ein paar Bissen auf dem Teller liegen, griff nur nach dem Krug und stürzte becherweise Wasser in sich hinein. Etwas davon rann ihr aus dem Mundwinkel. Sie hob ihre Hand und wischte es ab.
»Trinken tust du wie ein Ferkel! Und wie sollte jemand klug handeln können, der nicht einmal anständig isst?« Die Miene der alten Amme wurde immer griesgrämiger. »Steht es denn schon so schlimm um dich?«
Schlimmer, hätte Mina am liebsten geantwortet, und wenn du weiter auf mir rumhackst, kannst du erleben, wie es wird, wenn es ganz schlimm ist. Aber sie hielt lieber den Mund. Über Ameni konnte und wollte sie nicht mit der Alten sprechen; allein an ihn zu denken schnürte ihr inzwischen die Kehle zu. Wer wusste schon, was sie
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