Auge des Mondes
könnten doch …«
»Unmöglich!«
»Dann komm morgen gegen Mittag auf den Markt! Ich werde da sein.«
Wildes, verzweifeltes Kopfschütteln.
»Oder besser, komm doch einfach in mein Haus! Du findest mich ganz in der Nähe von …«
»Prinzessin!«, hörte sie Numi von drinnen rufen. »Wo bleibst du denn?«
»Bin gleich da!«, rief das Mädchen. »Ich weiß, wo du wohnst«, wandte sie sich wieder an Mina. » Er hat es mir gesagt. Und ich will es versuchen. Aber es wird nicht einfach sein. Du musst wissen, dass …«
»Prinzessin!« Numis Stimme war drängender geworden. »Kommst du?«
»Wir sehen uns - hoffentlich schon sehr bald!« Mit diesen Worten war sie im Haus verschwunden.
Senmut ließ die Liste sinken und legte sie zurück zu den anderen Papyri auf den Tisch. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Fehlbetrag, den er errechnet hatte, war sogar um einiges höher als zunächst angenommen. Das ließ nur zwei Schlüsse zu: Es gab jemanden hier im Tempel, der die Erträge gezielt manipulierte - und das schon seit geraumer Zeit. Oder aber die Schreiber, die die Listen erstellt hatten, waren ein Haufen Idioten, die ihr Handwerk nicht verstanden.
Er blieb eine Weile ruhig sitzen, äußerlich scheinbar versunken in das aufreizende Spiel der Weißen, die sich mit einem rötlichen Männchen balgte. Die Zeit der Paarung war angebrochen. In der vergangenen Nacht hatten wilde Katergesänge Senmut aus dem Schlaf gerissen.
Dann erhob er sich langsam.
Der magere Priesterschüler, der ein Stück entfernt geduldig am Fuß der großen Säule kauernd gewartet hatte, schoss augenblicklich in die Höhe.
»Hol sie her!«, befahl Senmut. »Alle beide! Menna und Chonsu. Ich will sie sofort sprechen.«
Die beiden erschienen rasch, allerdings mit mürrischen Gesichtern.
»Ich möchte, dass ihr euch eingehend mit diesen Listen befasst.« Senmut gab jedem von beiden eine Abschrift. »Ihr habt Zeit bis übermorgen Abend. Dann werden wir gemeinsam die Ergebnisse durchgehen.«
»Weshalb?«, begehrte Chonsu auf. »Du weißt genau, dass ich nicht besonders gut rechnen kann. Außerdem stecke ich inmitten …«
»Aber lesen, das kannst du?« Senmuts Stimme glich einer frisch geschärften Klinge. »Weitere Einwände?«, wandte er sich an Menna. »Dann nur frei heraus damit!«
Der schüttelte den Kopf. »Wir haben allerdings jede Menge vorzubereiten«, sagte er langsam. »Das Fest. Die Umbauten. Und der Satrap, du weißt …«
»Ich weiß.« Es klang abschließend. »Und es muss dennoch sein.«
»Aber du hast doch früher stets alles alleine kontrolliert«, versuchte Chonsu noch einmal sein Glück.
»Daran wird sich auch künftig nichts ändern. Die Aufgaben des Ersten Sehenden bleiben unverändert, solange er sein Amt zur Zufriedenheit verrichten kann.« Senmuts Tonfall hatte nichts von seiner Schärfe verloren. »Doch ungewöhnliche Umstände verlangen bisweilen eben auch ungewöhnliche Maßnahmen. Jetzt brauche ich eure Hilfe. Ihr beide bekleidet ebenfalls hohe Ämter. Und ihr seid meine Stellvertreter. Das solltet ihr niemals vergessen!«
»Ich weiß, wer ich bin«, sagte Menna.
»Ich weiß es auch«, echote Chonsu.
»Dann ist es ja gut.« Senmut setzte sich wieder auf seinen Schemel und vertiefte sich erneut in das Studium der Listen.
Die beiden anderen rührten sich nicht.
»Was, wenn wir tatsächlich etwas finden?«, sagte Chonsu schließlich. Man konnte hören, wie unbehaglich ihm zumute war. »Ich kann es mir zwar kaum vorstellen, aber möglich wäre es ja - zumindest theoretisch. Wie könnten wir dann sicher sein, dass es sich tatsächlich um einen Fehler handelt? Ich meine, weil doch bisher alles ausschließlich in deinen Händen lag.«
Senmut schaute nur kurz auf. Sein Gesicht war regungslos.
»Lasst die Schreiber rufen!«, befahl er. »Ich will sie einzeln sprechen. Alle! Und Bata soll den Anfang machen!«
Ameni überfiel sie, als sie im Garten war. Er sprang plötzlich hinter einer Sykomore hervor, lachte und breitete die Arme weit aus.
»Tantchen!«, rief er. »Weißt du was? Freiheit schmeckt wunderbar!«
Mina hielt ihn fest an sich gedrückt. Sie konnte seine Rippen spüren, die Schulterblätter, die knochig und hart wie kleine Flügel aus dem mageren Rücken stachen.
»Du hast uns alle gründlich um den Schlaf gebracht«, sagte sie. »Wir haben sogar um dein Leben gebangt, deine Eltern und ich.«
Er machte sich ungeduldig frei. »Ach was, alles nur halb so schlimm!«
»Halb so schlimm, nennst du
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