Augen für den Fuchs
wissen, dass er ein Polizist war, den man zur Ermittlung ins nahe Krankenhaus gerufen hatte. Dass die Mutter eines Straftäters ihn dort zusammengeschlagen hatte. Es war Zufall, dass er in diesem Gasthaus gestrandet war. Nur eines war mit Sicherheit kein Zufall gewesen: Simona Thede hatte man extra ins Krankenhaus bestellt. Sie konnte nicht zufällig dort aufgetaucht sein, just an jenem Morgen, als er dort dienstlich zu tun bekam. Aber wer auch immer ihr diese Rache ermöglicht hatte, Miersch würde auf eine Anzeige und das darauf folgende Spektakel verzichten. Der Kratzer und das blaue Auge würden verheilen. Und wenn er überlegte, als Familienvater konnte er die Reaktion von Simona Thede beinah verstehen.
Miersch leckte sich Heidelbeer-Kirsch vom Finger. Sie schmeckte hervorragend. Er würde Anne bitten, ihm mindestens zwei Gläser mitzugeben. Vielleicht konnte er sie regelmäßig bei Rosel bestellen.
»Vor fünfundzwanzig Jahren wurde in diesem Haus ein Mädchen erwürgt. Zimmer 12. Seitdem vermieten wir es nicht mehr. Heute ist’s die Abstellkammer.«
Miersch hätte kein Problem damit gehabt, im Bett eines Toten zu liegen. Er war sich sicher, dass fast überall Menschen gestorben waren. Marktplatz, Karussells, Straßenkreuzungen. Hunderte hatten sich vom Völkerschlachtdenkmal in den Tod gestürzt. Es blieb in Leipzig der Besuchermagnet. In der Thomaskirche erzählte man vom Mord an Markgraf Diezmann, trotzdem standen sie dort vor Bachs Grab. Woyzeck hatten sie den Kopf auf dem Platz vor dem Rathaus abgeschlagen, jeder latschte darüber. In beinahe allen Häusern war irgendwann einmal einer gestorben.
»Hat man den Mörder gefunden?«
Miersch stellte die Frage aus Routine. Er erwartete nichts Sensationelles, fast jeder Mord wurde aufgeklärt. Zumal vor fünfundzwanzig Jahren, da ermittelte schließlich die Deutsche Volkspolizei.
Die Geschichte der Deutschen Volkspolizei versteht sich als Teil der Geschichte des Entstehens und der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik, des zuverlässigen Schutzes der revolutionären Errungenschaften des werktätigen Volkes und des Kampfes zur Sicherung des Friedens.
»Sie haben Hans-Joachim, meinem Vater, die Schuld gegeben. Da war er schon tot. Er hätte die Schande sowieso nicht überlebt.«
Miersch blieb Rosels Marmelade in der Kehle stecken. Erst jetzt begriff er die Tragweite von Annes Erzählung. Hier im Gasthaus hatte ein Mensch ein Mädchen erwürgt, und die Polizei hatte Annes Vater als Mörder überführt. Miersch verstand nun auch Rosels komische Reden: Hajo ist kein Mörder! Sie lügen! Alle hier lügen sie!
»Sie glauben nicht, dass er es getan hat?«, fragte er.
»Wer kann denn schon glauben, dass man das Kind eines Mörders ist?«
Die meisten Menschen konnten sich vorstellen, zum Mörder zu werden. Aber dass Sohn oder Bruder, Mutter oder Großvater zum Mörder wurden, erschütterte dann doch jeden in der Familie. Er hatte die weinenden Verwandten von verurteilten Verbrechern auf den Gängen des Präsidiums gesehen. Es fiel ihnen schwer, die Tatsachen zu akzeptieren. Miersch hatte Trost gespendet und wie ein Pfarrer geredet. Aber weder die Kirche noch sonst irgendjemand konnte die Schmerzen der Betroffenen lindern. Erst gestern hatte ihn Simona Thede geschlagen. Er fuhr sich mit dem Finger sanft über die Schwellung. Marmelade, Brötchen und Kaffee, schwarz, stark, waren vergessen. Er versuchte, Anne in die Augen zu sehen, aber die wich seinem Blick konsequent aus. »Niemand glaubt das, und doch gibt es viele. Zumindest mehr, als wir denken.« Ein Allgemeinplatz, der keinen Trost spenden konnte. Miersch wusste nicht, wie er sein Frühstück fortsetzen sollte. Anne war auf dem Stuhl ihm gegenüber zusammengesunken.
Ihre Stimme war kaum noch zu hören. »Ja.«
Miersch trank vom Kaffee und suchte nach der Kanne, damit er auch der Wirtin ein Tässchen einschenken konnte. Aber die Kanne hatte wohl die junge Bedienung wieder mit in die Küche genommen. Ein Glas frische Milch von der Theke zu holen, schien Miersch der Situation unangemessen.
»Es ist nicht einfach, seine Schuld zu akzeptieren. Mutsch kann es bis heut nicht. Und auch ich habe Zweifel. Ich habe sie immer gehabt, heute mehr als damals.«
Vor fünfundzwanzig Jahren war Anne noch ein halbes Kind gewesen. Hajo ist kein Mörder! Annes Vater war als Mörder gestorben. Weder sie noch ihre Mutter hatten sich mit seiner Überführung als Täter abgefunden. Er sei vorher gestorben, hatte
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