Augen für den Fuchs
Anne erzählt. Rosel und Anne suchten noch immer nach Beweisen, dass es Hajo nicht gewesen war. Anders konnte Miersch das Verhalten der beiden nicht deuten.
»Ich höre Ihnen gern zu«, sagte er und versuchte, die richtige Mischung aus Interesse, Frühstück und Beichte zu finden. Er kam sich deplaziert vor. Doch verblüffenderweise wollte Anne erzählen, und er schien ihr der geeignete Partner zu sein, sich diesen Schmerz von der Seele zu reden. Zufällig war ihre Wahl auf ihn, Konstantin Miersch, gefallen. Anne konnte nicht wissen, dass er sich von Berufs wegen mit Mordermittlungen befasste. Und hier musste er nicht aufklären, er musste nur zuhören. Wenn es länger dauerte, würde Miersch eben Andrea Dressel Bescheid geben, dass er heute später in sein Büro käme.
»Was ist vor fünfundzwanzig Jahren passiert?«, fragte er und griff zu einem neuen Brötchen, als Belag wählte er Rosels Erdbeer- Marmelade.
Anne atmete tief ein und schwieg. Miersch trank den letzten Schluck Kaffee. Sie griff zum Nebentisch, auf dem die Kanne stand, die er nicht gesehen hatte, und goss ihm nach, wohl froh, vor den schwierigen Sätzen noch ein wenig Ablenkung zu bekommen. Es fiel ihr offensichtlich nicht leicht, über das dunkle Drama ihres Lebens zu reden. Dann sprach sie stockend und langsam. Miersch blickte nicht ein Mal auf die Uhr.
»Sie hatten bereits zwei Jahre davor eine Leiche gefunden. Hier im Park. Nur notdürftig mit ein paar Blättern bedeckt. Schrecklich zugerichtet, die Augen zerstochen. Und kein Jahr später fand man wieder ein Mädchen. Bei Naunhof an den Autobahnteichen. Tot. Vergewaltigt. Und wieder ausgestochene Augen.«
Anne hielt inne. Miersch verzichtete darauf, am Kaffee zu nippen, er wollte Anne nicht unterbrechen. Sie hatte vielleicht Jahre geschwiegen, möglicherweise überhaupt noch nie darüber gesprochen. Jetzt musste sie reden. Wenn vor fünfundzwanzig Jahren wirklich ein Serientäter in dieser Gegend Mädchen vergewaltigt, ermordet und ihnen die Augen ausgestochen hatte, dann war es verständlich, dass Anne und Rosel alles taten, um den Vater von dieser Schuld freizusprechen. Hajo ist kein Mörder! Aber Miersch hatte trotzdem Zweifel: Serientäter wurden überführt oder niemals gefunden. An einen Fall, in dem der Falsche verurteilt worden war, konnte sich Miersch nicht erinnern.
»Das war vierundachtzig im März, Katharina Witt hatte gerade die Olympiade gewonnen. Mutter ist die Treppe nach oben und hat ans Zimmer geklopft, als wir die junge Frau drei Tage nicht gesehen hatten und sie längst hatte abreisen wollen. Mutsch hat das Zimmer mit dem Universalschlüssel geöffnet. Zimmer 12. Da hat sie das Blut überall gesehen.« Anne schenkte sich selbst Kaffee nach. »Auch ich hab’s gesehen. Ich war noch ein Kind damals. Furchtbar. Blut, überall Blut. Auf dem Bett. An der Wand. Überall. Und das Mädchen lag da, nackt, die Beine gespreizt und ohne Augen. Das waren ganz schwarze und tiefe Höhlen. Furchtbar, der Anblick. Ich werde ihn mein Lebtag nicht vergessen. Ekelhaft.«
Anne versank in ihren schrecklichen Erinnerungen und atmete schwer. »Ihre Augen haben sie nie gefunden. Schrecklich. Sie haben erzählt, er würde sie essen.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Ihre Schultern zuckten.
Miersch hatte noch immer nicht den Mut zu einer mitfühlenden Geste. »Und Sie denken, Ihr Vater hat das getan?«
»Nein!«, schrie sie und blickte ihn an. »Nein! Alle denken das, bis heute schauen sie uns scheel an. Die Polizei hat den Fall schnell zu den Akten gelegt. Sie haben nie wirklich nach ihm gesucht. Mein Vater ist’s nicht gewesen! Niemals.«
Anne strich mit der Hand übers Tischtuch. Miersch trank endlich den Schluck Kaffee, schwarz, stark, aber kalt. Ins Brötchen zu beißen, hätte unverschämt ausgesehen, außerdem hatte er keines geschmiert. Die Wurstscheibe lag noch immer am Tellerrand. Er stippte den Löffel in Rosels Marmelade. »Aber Staatsanwalt und Polizei müssen Beweise für seine Schuld gehabt haben.«
»Hatten sie keine. Mein Bruder glaubte, dass unser Vater der Mörder war. Sie sind beide darüber gestorben. Sie konnten nicht mehr. Sebastian hat mit der Schuld seines Vaters nicht leben können. Sohn eines Mörders, der Augen isst. Die Mädchen haben sich geekelt vor ihm. Er hat Vater getötet und dann sich selbst.«
Anne schluckte schwer und wies mit dem Kopf Richtung Scheune und Hof. Miersch verspürte schon wieder den Impuls, ihre Hand zu
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