Augenblick der Ewigkeit - Roman
ein anderes Kaliber. Das spürte sie ganz deutlich. Sie tobte innerlich, wie eine Primadonna, die plötzlich umbesetzt worden ist und nur noch die zweite Geige spielen darf. Nachts, wenn sie wach lag und sich in den Schlaf weinte, träumte sie davon wegzulaufen oder sich einen Liebhaber zuzulegen oder mit dem Auto einfach gegen eine Wand zu fahren, um sich durch den Aufprall und den Schmerz zu beweisen, daß sie noch am Leben war. Wie unter Zwang malte sie sich aus, wie die Jüngere in seinen Armen lag, ihr nackter Körper willig hingebreitet, und jedesmal, wenn sie die selbstquälerischen Phantasien wieder und wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen ließ, wurden die Farben kräftiger und die Details genauer. Sie war zu weit gegangen. Sie hatte unversehens eine Tür geöffnet, hinter der der Hausherr mit seiner Konkubine der Liebe frönte, und fühlte sich bestraft wie ein beschämtes Kind.
Sie saß in der Bar im ersten Stock des Hotel Sube am Fenster, von wo aus sie den Alten Hafen überblickte. Die Tür zu dem schmalen Balkon über dem Café de Paris stand offen, so daß sie durch die Balustrade hinunter auf den Platz blicken konnte, auf dem die Touristen wie auf einer großen Bühne flanierten. Sturm kam auf, und dunkle Wolken türmten sich über der Stadt. Ein junger Hotelangestellter stuhlte vorsorglich die Tische auf und rollte die blaue Markise ein.
» Voilà, Madame…« Der Kellner servierte ihr ein Schokoladencroissant und dazu einen Pousse café aus verschiedenfarbigen Likören, die sie sorgsam Schicht für Schicht mit einem Strohhalm schlürfte. Daß sie überhaupt Hunger hatte, überraschte sie, und sie aß mit großem Appetit, als ob es das Normalste wäre.
Bevor sie zu Hause aufgebrochen war, hatte sie ihren Schrank nach etwas Passendem durchwühlt, als müßte sie sich für einen ihrer Bühnenauftritte kostümieren. Sie entschied sich für eine ausgestellte weiße Leinenhose mit Bundfalten und darüber eine rote Herrenjacke. Das Gesicht verbarg sie hinter einer großen Sonnenbrille und zog sich einen schwefelfarbenen Panama in die Stirn, mit schwarzem Band, so daß sie aussah, als gehörte sie zu den »h arten Kerlen« aus den Hollywoodfilmen der dreißiger Jahre.
Sie führt fort, in ihrem Buch zu lesen, Moira von Julien Green, das Kapitel, wo der Würgeengel das Mädchen, das mit ihm geschlafen hatte, mit seinem Mantel erstickte. Hin und wieder sah sie auf. Hier oben hockte sie wie eine Spinne im Netz und lauerte auf ihre Beute. Die ersten Regentropfen platschten auf die polierten Steinplatten des Platzes und verdunsteten im Nu. Als der Regen stärker wurde, flüchteten die Menschen vom Quai Suffren in die überdachten Nebengassen, ohne auf das stolze Standbild des Admirals zu achten, der dem Platz seinen Namen gegeben hatte und der in Stulpenstiefeln und Strumpfhose schirmlos über sie hinweg in weite Fernen blickte, das Fernrohr unter seinen linken Arm geklemmt. Ein Taubenpärchen auf seiner betreßten Schulter flog auf, als sie Maria endlich über den Platz rennen sah.
Die Vorstellung konnte beginnen. Etwas ungewohnt Wildes beherrschte ihre Phantasie. Sie hatte immer die Pamina, nie die Rachearie aus der Zauberflöte gesungen. Dazu war ihre Tessitur nicht umfangreich genug. Aber sie kannte jeden einzelnen Ton und jedes Wort: »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen, Tod und Verzweiflung flammet um mich her…«
Sie wartete noch eine Weile, bis sie sicher war, daß die Segelyacht bei dem heraufziehenden Unwetter nicht auslaufen würde. Dann stand sie auf und ließ sich an der Bar das Telefon geben. Sie schwankte leicht, der Likör war ihr in den Kopf gestiegen. Sie legte die Hand auf den Hörer. Doch dann zögerte sie. Warum ließ sie nicht ein Taxi kommen und ging einfach heim? Warum stellte sie Karl nicht dort zur Rede und warf das Luder aus dem Haus? Wozu das ganze Schmierentheater, diese dramatische Inszenierung eines Showdowns!
»…fühlt nicht durch dich Sarastro Todesschmerzen, so bist du meine Tochter nimmermehr!« Sie hatte Joachim auserwählt, die Rolle jener Tochter zu übernehmen. Sie warf einen Jeton in den Schlitz und wählte seine Nummer.
Jemand mußte vergessen haben, oben im Haupthaus den Anrufbeantworter einzuschalten. Eine Zeitlang ließ er es klingeln, bis der Anrufer wieder aufgelegt hatte. Keiner konnte wissen, daß er sich in den Strandbungalow zurückgezogen hatte, um ungestört zu arbeiten. Draußen auf dem Meer gingen Wolkenbrüche nieder. In seinem Arbeitszimmer
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