Augenblick der Ewigkeit - Roman
haben. Er stand mit dem Rücken zu ihm am offenen Fenster und tat, als blickte er über die Himbeersträucher in den Garten. » Du weißt, Karl, ich liebe dich wie meinen eigenen Sohn. Schon vor den Sommermonaten habe ich deinen Widerstand gespürt, wenn es um den Klavierunterricht ging. Aber ich habe nicht darauf geachtet, bis zu jenem Abend in der Bibliothek, als du einfach aufgestanden bist und hingeschmissen hast…« Im Spiegel der Fensterscheibe konnte Karl sehen, wie der Hofrat seine Augen schloß. » Ich habe zwar damit gerechnet, daß es in dem schwierigen Alter, in dem du dich befindest, zu Krisen und Rückschlägen kommen würde, und mich bemüht, dir ein Umfeld zu schaffen, in dem du ohne Einschränkungen und Zwang deine künstlerischen Talente entfalten kannst. Aber welchen Sorgensack du tatsächlich mit dir herumgeschleppt hast, davon hatte ich keine Ahnung.«
Aller Trotz war mit einem Mal verflogen. Verlegen blickte Karl auf seine Schuhe und schämte sich, dem Hofrat eine solche Enttäuschung bereitet zu haben. Er wollte doch nicht undankbar sein.
Der Hofrat wischte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht und drehte sich zu ihm hin. » Hättest du dich mir wenigstens früher anvertraut, hätte ich dir vielleicht noch helfen können. Aber jetzt? Wie soll es mit dir weitergehen? Du willst also ein Dirigent wie Doktor Furtwängler werden…«
Karl wagte es nicht, dem Hofrat in die Augen zu blicken, und antwortete mit leiser Stimme: »Ja, so einer will ich einmal werden, einer, dem das Publikum zu Füßen liegt und zu dem alle Welt aufschaut.«
Der Hofrat schüttelte den Kopf. » Du weißt doch, was Strawinsky über Dirigenten sagt: › Für mich ist der Dirigent nicht mehr als einer, der in der Kirche am Seil zieht und das Glöckchen läutet.‹ Dirigieren verdirbt den Charakter, und soll ich dir sagen, warum– weil dazu kein instrumentales Können gefordert ist.«
» Du irrst, Papa! Die Musik tut doch nur so, als würde sie von Individualisten gespielt! Gemeinsames Zusammenspiel jedoch kann nur von einem anordnenden Zentrum heraus entstehen. Selbst in einem Streichquartett braucht es einen, der die Einsätze vorgibt, Kontroversen entscheidet und sagt, wo es langgeht. Vielleicht wird die Spontaneität des einzelnen hin und wieder unterdrückt. Was spielt das für eine Rolle? Kein Musiker kann in einem Orchester alles hören, was musikalisch um ihn herum passiert!«
» Papperlapapp! › Nicht Kaiser oder König sein, aber so dastehen und dirigieren‹, pflegte Richard Wagner dazu zu sagen.«
» Und doch haben alle Komponisten von Beethoven, Mozart, Wagner über Mahler bis Strauss, selbst dirigiert und den Dirigenten expressis verbis in ihre Partitur hineinkomponiert.«
» Die Essenz des ganzen Dirigentenseins ist, mit einem kleinen Stöckchen in der Luft herumzufuchteln!«
Der Hofrat nahm einen Bleistift von seinem Schreibtisch. Kreuz und quer fuhr er damit in der Luft herum, als müsse er den Angriff wild gewordener Hornissen abwehren. » So fuchtelt er, so und so…«
Karl mußte sich zusammennehmen, um nicht zu lachen.
» Stell dir vor, mein Junge, es gäbe kein Orchester und er stünde allein da oben. Er, mit seinem kleinen Stöckchen. › Seht her! Beethovens Neunte, Mahlers Achte, Bruckners Siebte…‹, ruft er fuchtelnd in den Saal, und in der sechsten Reihe zeigt ein Kind mit seinem Finger auf ihn und kräht: › Der Kaiser ist ja nackt!‹«
» Dann steht er eben so da wie ein Kaiser oder König. Aber nackt ist er so wenig wie allein. Denn um ihn herum hat sich aus freien Stücken das wunderbarste Instrument versammelt, das nur auf sein Zeichen gewartet hat, damit die Musik beginnen kann. Wer so dasteht wie er, braucht weder Kaiser zu sein noch König. Er ist ein Inbild menschlicher Macht und Größe, wie es kein Herrscher je verkörpern kann, und das, worüber er seine Macht ausübt, sind nicht die Musiker– es ist die Musik selbst, die heilige Kunst!«
» Und wenn er einen Fehler macht und das Orchester schmeißt, wer trägt dann die Verantwortung, und wer wird ausgelacht? Ich will dir sagen, wie es sich in Wirklichkeit verhält, mein Junge. Nur aus der Angst, als Pianist für deine eigenen Fehler verantwortlich zu sein, verrätst du dein eigentliches Talent und wählst statt dessen diese Dirigentenkarriere!«
Der Hofrat wandte ihm wieder den Rücken zu, und Karl wusste, das war genau der Grund, warum der Hofrat Bankier geworden war und er statt seiner die Karriere machen
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