Augenblick der Ewigkeit - Roman
vor sie hintrete?«
Aus dem Probensaal im ersten Stock ertönten anarchische Klänge und Musikfetzen in einem emsigen und flüsternden Durcheinander. Die Musiker stimmten gerade die Instrumente, als Gudrun und ihre Tochter das Foyer des Palais de Festival durchquerten und die Marmortreppe hinaufeilten. Die beiden Frauen hielten sich an den Händen. Es war nicht zu erkennen, wer wen mit sich zog. Sie schwangen die Arme, wie es Kinder tun. Aber mit jeder Stufe, die Gudrun hinaufstieg, wuchs ihre Angst vor dem Treffen mit Maria, und das Schlenkern wurde immer verkrampfter. Doch Johanna ließ nicht locker. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb Gudrun plötzlich stehen.
Ein trüber Schleier hatte sich über ihre Augen gelegt. Sie erinnerte sich an ihre Eifersucht, an die Lügen und Heucheleien, denen sie ausgesetzt gewesen war, an die Gefühle der betrogenen Ehefrau, wie es war, zurückgestoßen, verschmäht, benutzt und weggeworfen worden zu sein, und wie sie sich schließlich entschlossen hatte, sich dafür zu rächen, kalt und berechnend, um diejenigen zu vernichten, die sie am meisten liebte. Ein heißer Ring legte sich um ihren Kopf, und sie blickte mit aufgerissenen Augen über Johanna hinweg, als wäre sie noch einmal Zeugin jenes damaligen Geschehens, von dem niemand, außer den Beteiligten, je etwas erfahren hatte.
Ein Wolkenbruch entlud sich über dem Hafen. Windböen fegten das Regenwasser in Wellen über den Platz. Mit einer Gischtfontäne schoß ein VW über den Platz. Ein nackter Mann kam über die Landungsbrücke einer Hochseeyacht. Er hatte ein Handtuch um die Hüfte geschlungen. Er stand im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Er hob die Arme und schrie. Eine Frau stand an der Reling, den Mund zum Schrei geöffnet. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Der Mann wurde von der Stoßstange erfaßt. Sein Kopf prallte gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibe zersprang in tausend Stücke–
Gudrun klopfte sich auf die Brust und atmete tief aus. » Mein Gott! Ich schaff das nicht!«
Sie machte kehrt und rannte die Treppe hinunter. » Adieu, mein Kind, du mußt alleine gehen.«
Auf dem mittleren Absatz hatte Johanna sie eingeholt. » Wenn du jetzt kneifst, Mama– das schwör ich dir–, spreche auch ich kein Wort mehr mit dir!«
Als Gudrun den Probensaal betrat und die Versammlung ergrauter und kahler Köpfe erblickte, die das Einstimmen ihrer Instrumente unterbrachen und mit den Bögen ein freudiges Willkommen gegen die Pulte klopften, zuckte sie zusammen wie bei einem Klassentreffen nach vielen, vielen Jahren. Maria stand am anderen Ende des Saals, in Jeans, eng wie eine zweite Haut, und blätterte in der Partitur. Gudrun vermied es, mit ihr in Blickkontakt zu treten. Sie stieg statt dessen die Stufen zur Bühne hoch und knipste ihr berühmtes Lächeln an. Stumm schüttelte sie die Hände der ehemaligen Kollegen und blickte verunsichert in die gealterten Gesichter emeritierter Professoren, pensionierter Konzertmeister und Orchestermusiker im Ruhestand. Wie beim Rückspulen eines Films straffte sich in ihrer Erinnerung die Haut der welken Gesichter, es wuchsen ihnen wieder Haare, und sie erkannte in den alten Männern jene Musiker wieder, mit denen sie und Herzog einst ihre größten Erfolge gefeiert hatten. Es fielen ihr nicht alle Namen gleich wieder ein, und so wurde es teilweise eine stumme Begrüßung, ein gedämpftes Wiederbegegnen nach so langer Zeit, vielleicht auch, weil ihr bewußt wurde, wie viele längst gestorben waren. Das also waren die Überreste jenes legendären Philharmonischen Orchesters, mit dem Herzog und Lassally ihre erfolgreichsten Plattenaufnahmen gemacht hatten.
Maria ließ Gudrun keine Sekunde aus den Augen. Sie hatte die Begrüßungszeremonie nicht stören wollen und beobachtete Gudrun mit gespannter Aufmerksamkeit aus einer hinteren Reihe des Parketts.
» Sieht sie nicht bezaubernd aus…« Lassally hatte sich zu ihr gesetzt. » …wie sie sich in ihrem Schulmädchenkleid durch die Reihen schlängelt?«
» Schulmädchen?« Maria warf einen irritierten Blick auf ihn. » Du meinst, wie eine Schlange!« Ihre Aufmerksamkeit war ganz dem Geschehen auf der Bühne zugewandt. » Herzog denkt, ich hätte verhindern wollen, daß sie zu seinem Geburtstag eingeladen wird. Er war ganz wild darauf, daß sie kommt, und hätte sie am liebsten mit seiner Privatmaschine in Salzburg abgeholt! Aber ich bin hart geblieben. Sonst wäre ja die ganze Überraschung hin.«
» Ich glaube, er
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