Augenblicklich ewig
Grübeleien und Sorgen hätte Polly ohnehin nicht durchgestanden.
Ohne es zu merken, wurde sie immer schneller. Die letzten Meter rannte sie und erreichte Sams Haustür schließlich völlig außer Atem. Sollte sie einfach klingeln? Sicher würde er nicht mitten in der Nacht den Türöffner drücken. Er würde das Klingeln eher für einen Streich oder den Fehler eines Betrunkenen halten. Sie entschied sich für eine SMS.
Bist du wach? Die Antwort kam prompt.
Ja.
Darf ich raufkommen?
Wo bist du?
Ich stehe vor deiner Haustür.
Keine zwei Sekunden später hörte Polly das Summen des Türöffners und drückte die schwere Tür auf. Sie hastete die beiden Stockwerke nach oben und blieb unwillkürlich stehen, als sie Sam in der Wohnungstür erblickte. Er hatte geschlafen, daran bestand kein Zweifel. Seine Haare waren zerwühlt, aber sein Blick war aufmerksam. Er trug eine Jeans und ein weißes T-Shirt und war barfuß. Sie vermutete, er hatte sich angezogen, während sie im Treppenhaus war. Bei seinem Anblick konnte Polly nicht fassen, wie sie es überhaupt einen einzigen Tag ohne Sam ausgehalten hatte. Er war ihr so vertraut und sie fühlte sich sofort, als sei sie endlich nach Hause gekommen. Es war Sam selbst. Er war ihr Zuhause. Dennoch bemerkte sie, wie schlecht er aussah. Blasser, traurig.
»Polly.«
Seine Stimme bereitete ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie war ebenso vertraut wie sein Anblick und das Einzige, was sie nun hören wollte. Ihr Kopf war wie leergefegt. Was hatte sie sagen wollen?
»Du bist gestorben.« Das war nicht der Gesprächsanfang, den sie geplant hatte.
Auch Sam schien nicht zu verstehen. Er zog eine Augenbraue nach oben, runzelte die Stirn.
Polly stand nun direkt vor ihm. Sie hätte ihn berühren können, traute sich jedoch nicht. »Ich meine nicht jetzt, nicht irgendwie symbolisch oder so, sondern damals.«
Sam nickte, schien sich jedoch immer noch nicht sicher über den Anlass ihres nächtlichen Besuchs zu sein.
Sie schloss die Augen, um sich aus seinem Bann zu befreien, atmete tief durch, öffnete die Augen wieder und begann das Gespräch neu. »Ich weiß, wie es funktioniert. Warum du dich erinnerst und nicht ich. Du bist gestorben. Ich nicht.« Sie sah ihm in die Augen. Erstaunen zeichnete sich darin ab, die Traurigkeit wurde von Interesse und vielleicht sogar Hoffnung verdrängt. »Darf ich reinkommen?«
Sam blinzelte kurz. »Natürlich, vielleicht sollten wir dieses Thema nicht gerade auf dem Flur besprechen.« Er trat zur Seite, damit Polly die Wohnung betreten konnte. Unschlüssig, wohin sie gehen sollte, folgte sie dem einzigen Lichtstrahl in der Wohnung in sein Schlafzimmer. Sam ging direkt hinter ihr. Eine deutliche Spannung lag in der Luft. Im Schlafzimmer angekommen, bot das Bett die einzige Sitzgelegenheit. Also setzte Polly sich auf die Bettkante. Sam blieb an den Türrahmen gelehnt stehen. Sie konnte ihm nicht verdenken, dass er vorsichtig war. Er wusste nicht, was ihn erwartete, und ihre letzte Begegnung war schmerzhaft gewesen. Deshalb begann sie ohne Umschweife.
»Ich war in Los Angeles. Auf dem Friedhof. Ich habe unsere Gräber gesehen.« Sie musste schlucken, obwohl sowohl Sam als auch sie selbst gesund und lebendig waren. Es war nach wie vor ein eigenartiges Gefühl.
Sam sah sie aufmerksam und forschend an.
Sie musste sich konzentrieren, um nicht erneut den Faden zu verlieren. »Du bist 1968 gestorben.« Er nickte. »Ich aber erst 1980.«
Sam richtete sich auf. »Tatsächlich?«
»Ja. Genau in dem Jahr, in dem wir in diesem Leben geboren sind.«
»Geboren wurden wir in dem Leben, an das ich mich erinnere, 1899.«
»Ich weiß, gestorben bin ich zuvor aber schon 1886. Das war bei der Feier zur Einweihung der Freiheitsstatue.«
»Ich weiß.«
»Du hast weitergelebt. Dreizehn Jahre. Bis 1899. Und wir haben uns erst in den 1920ern wiedergesehen. Ich konnte mich erinnern, weil ich zuerst gestorben bin. In diesem Leben bist du es, der sich erinnert, weil du es warst, der zuerst gestorben ist.«
Sam schwieg eine Weile und Polly überließ ihn seinen Gedanken. Sie war sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Rätsel gelöst zu haben.
Schließlich sah er sie wieder an. »Erinnerst du dich an meine Geschichte? Daran, wie du mich gefunden hast und was du mir aus dem Leben davor erzählt hast?«
Polly nickte. »An jedes einzelne Wort.«
Einen kurzen Moment blickte Sam sie schweigend an, dann schien ihm einzufallen, was er eigentlich sagen wollte. »Wir
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