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Augenblicklich ewig

Augenblicklich ewig

Titel: Augenblicklich ewig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Neuberger
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konnte nicht mit ihm sprechen. Ihre Gefühle waren von dem Moment an, in dem sie die Fotos gefunden hatte, vollkommen durcheinandergeraten. Ihr ganzes Leben war von einer Minute auf die andere im Chaos versunken und bisher war sie den Antworten auf ihre Fragen kaum näher gekommen. Sie hatte Sam verlassen, nur um ihn zu vermissen. Sie vernachlässigte ihre Arbeit, um ihre Wunden zu lecken, versank in Traurigkeit. Sie war vor Sam geflohen und befand sich nun auf seinen Spuren in der Vergangenheit. Was hätte sie am Telefon sagen sollen? Sie konnte sich nicht bei Sam entschuldigen, ihm sagen, alles würde wieder gut werden, obwohl sie ihm gerne einen Teil seines Schmerzes genommen hätte. Es war auch ihr Schmerz und sie wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Sie wusste nicht einmal, was sie am nächsten Tag entdecken und was das alles für ihr Leben bedeuten würde. Er hatte in seinem Brief geschrieben, dass er sie liebte. Reichte ihr seine Liebe, um ihre Freiheit aufzugeben und sich auf den ihr vorbestimmten Weg zu begeben? Sicher war, sie liebte Sam nach wie vor. Ein Gefühl, das sie ganz und gar beherrschte, so sehr, dass es wahrscheinlich nie verschwinden würde.
    Zurück im Hotel konnte Polly lange nicht einschlafen. Sie hatte für den nächsten Tag einen Besuch an der UCLA, der Universität von Kalifornien, geplant, um im Archiv nach Hinweisen auf die Zeitung zu suchen, von der Sam ihr erzählt hatte. Danach wollte sie sich das Haus in Santa Monica ansehen – zumindest von außen. Ob sie den Mut aufbringen würde, Sams Grab auf dem Friedhof aufzusuchen, wusste sie nicht. Als es schon dämmerte, fiel Polly endlich, müde von ihren Grübeleien, in einen kurzen Schlaf.

 
    Sam rollte sich halb auf Polly, die ausgestreckt auf ihrem Bett lag. Er lachte, fragte sie, ob er ihr Leben durcheinanderbringe. Noch bevor Polly eine Antwort geben konnte, senkte er seine Lippen auf ihre. Wie immer, wenn sie seinen Mund auf ihrem spürte, waren alle Gedanken, die ihr eben noch wichtig erschienen, wie weggespült. Sie fühlte nur noch Sam, dachte an nichts anderes mehr als an ihn, vergaß die Welt, das Leben und beinahe das Atmen. Er beendete den Kuss zu früh.

 
    Der Wecker ihres Handys riss Polly aus ihrem Traum. Ihre Wangen waren mit Tränen bedeckt. Der Traum hatte sie einmal mehr in eine glücklichere Zeit entführt, konnte ihr Sam jedoch nicht zurückbringen. So sehr sie sich das auch wünschte. Sie schüttelte den Schmerz ab und bereitete sich auf den Tag vor. Einen Kaffee, zwei Donuts und eine viel zu teure Taxifahrt später stand sie vor der UCLA. Im Sekretariat erhielt sie einen Besucherausweis und die Wegbeschreibung zum Lesesaal der Universität. Alte Zeitungen, Fotos und Magazine standen dort digitalisiert zu Verfügung. Sie suchte sich einen Platz ganz am Ende des Raums in einer ruhigen Ecke und begann mit der Recherche.
    Es dauerte bis zum Mittag, bis Polly auf die richtigen Informationen stieß. Ein Interview mit einem deutschen Autor im Exil, das sie geführt hatte – zumindest dem Namen in der Verfasserzeile nach zu urteilen. Mit zitternden Fingern klickte sie den Artikel an, atmete tief durch und begann zu lesen. Polly löste sich geistig von der Idee, dass sie selbst das Gespräch geführt hatte, und betrachtete es wie eine fremde Arbeit. Einen anderen Gedanke ließ ihr Verstand ohnehin nicht zu. Der Artikel war nur eine Seite lang, aber dennoch aufschlussreich. Es fehlten sämtlich Fragen, die andere Journalisten in so einem Interview vielleicht gestellt hätten. Der Autor musste weder erklären, wie es ihm in Deutschland ergangen war noch wie er in die USA gelangen konnte. Sein Schmerz über die Flucht war dennoch aus jeder Zeile herauszulesen. Er beantwortete die Fragen nach den Dingen aus seiner Heimat, die er in den USA am meisten vermisste, und nach den Einflüssen des fremden Landes auf seine Arbeit derart intensiv und voller Sehnsucht, dass Polly schauderte. Als sie fertig mit Lesen war, beschlich sie die Ahnung, vielleicht falsch mit ihren Annahmen zu liegen. Dieses Gefühl verdrängte sie jedoch für den Moment, um nach weiteren Hinweisen zu suchen. Sie fand einen Artikel aus dem Jahr 1950, der das deutsche Amerika behandelte. Der Text beschrieb das Leben derer, die nicht nach Kriegsende in ihre Heimat zurückgekehrt waren, um beim Wiederaufbau zu helfen oder um wieder den gewohnten Boden unter den Füßen zu haben, die Muttersprache zu sprechen und Familie und Freunde zu suchen.

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