Augenblicklich ewig
waren krank. Wir sind beide gestorben. Ich habe nachgerechnet. Das muss ungefähr 1834 gewesen sein, vielleicht sogar 1833. Das Letzte, woran du dich erinnern konntest, bevor wir krank wurden, war die Oper. Mendelssohn Bartholdy. Im nächsten Leben wurden wir aber erst 1846 geboren. Du hast mich gefunden, obwohl wir beide gestorben sind.«
Polly überlegte kurz. Sie war absolut sicher, recht zu haben. »Erinnerst du dich an irgendetwas nach meinem Tod? Irgendwelche Träume?«
»Nein.«
»Du bist nicht gestorben. Ich bin überzeugt, du hast die Krankheit überlebt und bist erst 1846 gestorben. Es ist alles vollkommen logisch. Wer zuerst stirbt, erinnert sich im nächsten Leben. So ist es jedes Mal gewesen.«
»Du könntest tatsächlich recht haben. Es hat zwar mindestens zweihundert Jahre gedauert, das Rätsel zu lösen, aber du hast es geschafft.« Sam lächelte schief.
Polly Herz setzte einen Takt aus, als sie sah, wie das Lächeln endlich seine erschöpften Gesichtszüge merklich aufhellte. »Ich weiß sogar noch mehr«, verkündete sie. »Ich weiß, warum es so ist.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»So sind es immer nur wir beide.« Sie war in Anbetracht der ungeklärten aktuellen Situation plötzlich verlegen. Ihre Stimme wurde leiser. »Egal, was der Überlebende tut, fühlt, denkt. Unabhängig davon, wie er sein Leben ohne den anderen weiterführt, ob er für immer trauert, sich neu verliebt, einmal oder sogar mehrmals, heiratet oder Kinder bekommt. Ganz egal, was passiert, ins nächste Leben nehmen wir nur die Erinnerungen an unser gemeinsames Leben mit. Alles andere ist vergessen.«
Sam schwieg, folgte scheinbar Pollys Gedanken. Sie stand auf und ging bis in die Raummitte auf ihn zu. »So starten wir jedes neue Leben mit der Erinnerung an uns, an ein glückliches Leben, das wir zusammen verbracht haben. Nur du und ich.« Ihre Stimme war kaum mehr hörbar, weil ihr bereits Tränen über die Wangen kullerten.
Sam musterte sie. Polly konnte Zweifel, Hoffnung und Sehnsucht in seinen Augen sehen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.«
»Polly ...« Sam wollte auf sie zukommen, doch sie hob die Hand, um ihn aufzuhalten. Sofort blieb er stehen. Sie konnte die Anspannung sehen, von der er unmittelbar gepackt wurde.
»Nein, warte bitte. Lass mich das zu Ende bringen.« Die Traurigkeit kehrte in seine Augen zurück. Dennoch wollte Polly nicht, dass er sie jetzt berührte. Sie waren seit ihrem ersten Treffen nie so lange voneinander getrennt gewesen und sie hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie einander zu nahe kamen. »Ich habe nicht begriffen, was du mir erklärt hast. Dass es nur eine Polly und einen Sam gibt, kein vorherbestimmtes Leben, sondern nur uns. Jetzt weiß ich, was du damit sagen wolltest. Ich verstehe es. Es gibt nur uns. Dich und mich. Immer anders, aber dennoch immer die gleichen. Sam und Polly, du und ich.« Sie holte tief Luft und sah ihm fest in die Augen. »Ich liebe dich, Sam.«
Mit zwei Schritten war Sam bei ihr und riss sie förmlich in seine Arme, vergrub sein Gesicht an ihrem Hals und drückte sie an sich. Polly war egal, was passieren, durch welche Zeiten und Räume sie reisen würde, sie wollte nur bei ihm sein, weil das der Ort war, an den sie gehörte. Sie wirbelte, taumelte, das Zimmer um sie herum verschwamm, der Boden löste sich auf und verwandelte sich in eine Wiese, eine Straße und dann wieder in einen Zimmerboden. Die Wände drehten sich, verschwanden, nur um dann wieder in anderer Form zu erscheinen. Polly ließ es geschehen. Sie trotzte der Übelkeit, konzentrierte sich auf Sam. Das war alles, was zählte. Sie war wieder bei ihm, in seinen Armen. Und dann war alles still. Kein Wirbeln, keine Bilder, nichts. Sie blieb an Ort und Stelle, hörte Sams Atmen und spürte seine Wärme.
»Ich liebe dich, Sam«, flüsterte sie.
Er löste sich ein wenig von ihr, sodass er sie ansehen konnte. »Und ich liebe dich, Polly.« Dann endlich küsste er sie. Seine erste Berührung war sanft, wurde jedoch fordernd, als sie den Kuss erwiderte. Polly schmiegte sich so fest an Sam, wie sie konnte, vergrub ihre Finger in seinen Haaren und zog seinen Kopf zu sich herunter. Sie hatte ihn so sehr vermisst, wollte so viel wie möglich von ihm spüren.
Sam ging es anscheinend genauso. Er löste das Haarband, das ihre vom Duschen immer noch feuchten Haare zusammenhielt, vergrub seine Hände in ihren Locken und bog ihren Kopf leicht zurück,
Weitere Kostenlose Bücher