Augenblicklich ewig
was jedoch weniger am Wohlwollen des Schicksals lag, als daran, dass sie alle paar Stunden aus dem Schlaf hochschreckte. Doch kurz vor dem Aufwachen sah sie Sams Augen. Seine dunklen, braunen Augen, die so tief waren, dass sie unmittelbar hineintauchen musste.
Am Morgen war sie unausgeruht und kaum besser gelaunt als am Tag zuvor. Sie fühlte sich erschöpft und tieftraurig. Das änderte sich zumindest oberflächlich, als ihr Vater von seiner Reise zurückkam. Ihre Mutter hatte zum Mittagessen einen großen Salat gemacht. Dazu gab es Nachos und Knoblauchbrot mit Salsa. Nachdem ihr Vater ausführlich von seinen erfolgreichen Geschäftsterminen berichtet hatte, schmiedeten sie Pläne für die nächsten Tage. Pollys Dad war ein passionierter Golfer. Sie selbst spielte weder gut noch gerne, wollte ihm aber eine Freude machen und die eine oder andere Golfrunde mit ihm bestreiten. Außerdem würde sie ihrer Mutter weiter bei der Gartenarbeit helfen. Beides waren Tätigkeiten, die sie als Teenager gehasst hatte. Heute war sie froh, Zeit mit ihren Eltern zu verbringen und von ihren ständigen Gedanken an Sam abgelenkt zu werden. Ein Shoppingbummel mit ihrer Mum stand ebenfalls auf der Liste. Wie gewöhnlich, wenn sie in ihrer alten Heimat war, würde sie liebgewonnene Produkte, die in Deutschland nicht zu haben oder viel teurer waren, auf Vorrat kaufen.
Die Tage vergingen schnell und wären die Nächte ruhiger gewesen, hätte Polly sich zunehmend entspannt. Doch durch ihre wiederkehrenden Träume von Sam war an ein Ende des Schmerzes nicht zu denken, an Vergessen noch viel weniger. Wieder und wieder sah sie ihn im Traum, verbrachte wundervolle Stunden, die sie geteilt hatten, erneut mit ihm. Keine davon gehörte einem vergangenen Leben an. Jeder einzelne Traum handelte von ihr, Sam und ihren gemeinsamen Erlebnissen in diesem Leben. Jeder einzelne war zugleich schönste Erinnerung und schlimmste Qual.
Bis ich dich wiederfinde
Sam zog sie dicht an seinen Körper. »Ich werde dich lieben Polly. Solange ich lebe. Ich verspreche es«, raunte er. Seine sonst so weiche Stimme klang rauer, verführerisch. In ihrem Magen tanzten Millionen Schmetterlinge, als er seinen Mund auf ihren senkte. Sie drängte sich an seinen Körper und fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare, während Sams Hand ihren Rücken hinunter wanderte, um sich unter ihr Hemd zu schieben.
Polly schreckte einmal mehr aus dem Schlaf hoch. Es war gerade erst zwei Uhr, mitten in der Nacht. Ihr Herz hämmerte. Schlaftrunken tapste sie in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es konnte unmöglich so weiter gehen. Sie war bereits eine Woche in Chicago, fand keine Erholung, keine Ruhe und auch keinen Weg zurück in ihr altes Leben. Ewig konnte sie sich nicht mehr hier, am anderen Ende der Welt, vor Sam verstecken. Sie musste arbeiten. Sie konnte Lea nicht versetzen, wollte auch die übrigen Magazine, mit denen sie gerne zusammenarbeitete, nicht ständig vertrösten. Aber wie konnte sie zurückkehren und einfach so tun, als sei nichts passiert? Würde Sam versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen? Bisher hatte er nicht angerufen und auch keine Nachricht oder E-Mail geschickt. Plötzlich fiel ihr der Umschlag wieder ein, den er vor ihrer Abreise in ihren Briefkasten gesteckt hatte. Im Dunklen hastete sie nach oben, zurück in ihr Zimmer. Sie hatte den Umschlag zwischen ihre alten T-Shirts geschoben und zog ihn nun mit zittrigen Händen hervor. Es dauerte lange Minuten, bis sie es wagte, ihn zu öffnen.
Auf ihrer Bettkante sitzend zog sie vorsichtig einen Stapel Papiere aus dem braunen Umschlag. Auf dem ersten Blatt erkannte sie Sams Handschrift.
Liebe Polly,
ich habe Dir versprochen, mich nicht zu melden, deshalb schreibe ich Dir, statt wieder einmal vor Deiner Tür aufzutauchen. Ich schicke Dir die Fotos. Behalte sie als Erinnerung an mich. Mich selbst erinnern sie nur an eine längst vergangene Zeit. Sie haben ihre Bedeutung verloren, als ich dich gefunden habe. Außerdem befinden sich in dem Umschlag alle Informationen, die ich außer meinen Erinnerungen zu unserem letzten Leben besitze. Du findest dort eine Liste mit allen Namen, die Adressen des Hauses in Santa Monica und des Friedhofes, auf dem ich begraben bin. Ich selbst habe es nie geschafft, dorthin zu fahren. Du irrst, wenn du glaubst, ich habe all diese Informationen gesammelt, weil ich mein altes Leben nicht loslassen kann. Oder viel schlimmer noch, mir wünsche, Du würdest
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