Augenblicklich ewig
so werden, wie die Frau aus meiner Erinnerung. Stattdessen waren sie lange Zeit meine Versicherung dafür, dass ich nicht verrückt bin und die Erinnerungen kein Produkt meiner Fantasie sind. Sie sollten mir auch helfen, Dich zu überzeugen, wenn ich Dich endlich gefunden habe. Tatsächlich habe ich sie, wie du weißt, nie gebraucht. Du hast mir geglaubt, mir vertraut. Polly, ich liebe Dich. Nur Dich. Das hätte ich Dir viel früher sagen müssen. Du bist mein Leben, meine Bestimmung. Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben. Ich werde warten, bis Du den Weg zurück zu mir findest. In diesem oder im nächsten Leben.
In Liebe,
Sam.
Tränen liefen über Pollys Wangen. Sie blätterte durch die Unterlagen. Einige der Fotos hatte sie bereits in Sams Wohnung gesehen. Sie zeigten sie selbst, älter als heute, aber eindeutig zu erkennen. Auf einem der Bilder war sie mit Sam gemeinsam zu sehen, auf den meisten jedoch alleine. Eines der Fotos zeigte sie, eine weitere Frau und einen Mann in einem Garten bei einem Barbecue. Der Tisch war reichhaltig gedeckt. Ob die beiden Paul und Johanna waren? Natürlich waren sie es. Sie sahen genau so aus, wie Sam sie beschrieben und Polly sie sich vorgestellt hatte. Alle Fotos waren kunstvoll arrangiert und zeigten Sams Handschrift. Es waren seine Arbeiten! Dies waren keine Fotos, die er irgendwie von einem Leben ins nächste gerettet hatte. Das waren keine privaten Schnapsschüsse. Nein, es waren Fotografien, die er beruflich gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte er sie in einem Archiv entdeckt – sie dachte an die Bücher in seinem Schlafzimmer – oder in einem Bildband. Die Fotos waren seine Versicherung gewesen. Polly wusste, was er damit meinte. Seit sie nicht mehr mit Sam darüber sprach, kam ihr das Erlebte mehr und mehr wie ein merkwürdiger Traum vor. Wie die Träume, die sie nachts heimsuchten. Vollkommen unmöglich, obwohl sie wusste, es war real. Wenn sie darüber nachdachte, dass Sam bis zu dem Tag, an dem er ihr alles offenbart hatte, völlig allein mit seinen Erinnerungen gewesen war, mit niemandem darüber hatte sprechen können, verstand sie nur zu gut, wozu er einen physischen Beweis für seine Erinnerungen gebraucht hatte. Sie hätten genauso gut Hirngespinste sein können.
‚Ich liebe dich. Du bist mein Leben.‘ Inzwischen strömten die Tränen unaufhaltsam ihre Wangen hinunter. Die Papiere mit Listen und Adressen, die sie nun in Händen hielt, konnte sie durch den Tränenschleier kaum noch erkennen. Dennoch wusste sie, was zu tun war. Sie würde nach Kalifornien fliegen. Noch in der Nacht buchte sie einen Flug von Chicago nach Los Angeles für den nächsten Nachmittag.
Ihren Eltern erzählte Polly am Morgen, sie würde nach L.A. fliegen, um für eine Idee zu recherchieren, die ihr spontan in der letzten Nacht gekommen war. Natürlich waren diese überrascht von ihrem überstürzten Aufbruch und traurig, denn Polly konnte ihnen nicht in Aussicht stellen, vor ihrer Rückkehr nach Deutschland noch einmal in Chicago zu stoppen. Zwar hatte sie den Rückflug noch nicht gebucht, einen weiteren Flug als den nach Frankfurt würde sie sich wahrscheinlich aber auch nicht leisten können. Sie trennte sich ungern so schnell wieder von ihren Eltern, aber sie war auch voller Vorfreude darauf, eine Reise anzutreten, die Klarheit in ihr Leben und in ihre Gefühlswelt bringen konnte. Sie wusste nicht genau, was sie erwartete, aber sie war sich sicher, dies war die einzige Chance, Sam noch einmal näher zu kommen.
Um fünf Uhr am Nachmittag erreichte sie LAX. Es war ein ungewöhnlich heißer Tag, aber Polly war dankbar, der klimatisierten Kälte des Flugzeuges entkommen zu sein. Daran, sich um ein Hotelzimmer zu kümmern, hatte sie in ihrer Eile nicht gedacht. Glücklicherweise konnte ihr der Taxifahrer ein Hotel in Santa Monica empfehlen, das erschwinglich und trotzdem sehr hübsch war. Da sie heute nicht mehr viel erreichen würde, beschloss sie, einen Spaziergang zum Strand zu machen und sich irgendwo ein kleines Essen zu gönnen. Schließlich verband sie beides miteinander und nahm ein gekauftes Sandwich und eine Cola mit zum Strand. Dort hing sie in der warmen Abendsonne ihren Gedanken nach. Sie hatte Sams Brief wieder und wieder gelesen. Hatte ihn anrufen wollen, es aber nicht getan, weil sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte. Dann hatte sie wieder alle Einwände über den Haufen geworfen und zu ihrem Telefon gegriffen, nur um ihn doch nicht anzurufen. Sie
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