Augenblicklich ewig
Zunächst bekam sie eine leichte Gänsehaut, dann, je weiter sie las, desto mehr Tränen weinte sie. Jedes Wort kam ihr bekannt vor. Nicht weil sie sich daran erinnerte, den Artikel in einem früheren Leben einmal geschrieben zu haben. Nein, sie hätte ihn heute ganz genauso geschrieben. Schon während des Lesens nahm ihr Verstand die folgenden Worte vorweg. Sie wusste, wie der Satz enden würde, weil sie ihn ebenso formuliert hätte. Dieser Text hätte genauso gut von ihr selbst stammen können. Er stammte von ihr, nur nicht aus dieser Zeit.
Erst jetzt begriff Polly, was Sam versucht hatte, ihr zu erklären. Es gab keine andere Polly und keinen anderen Sam. Es gab nur sie und ihn. Heute, gestern, vor hundert Jahren. Sie waren immer dieselben, wenn auch in anderen Leben mit anderen Geschichten. Ihre Seelen, die Essenz ihres Daseins blieb immer gleich, egal, in welcher Zeit sie geboren wurden. Deshalb wählten sie ähnliche Berufe, ähnelten sich ihre Leben von einem zum anderen. Deshalb passten sie in jeder Zeit zusammen. Sie waren verwandte Seelen. Das Schicksal bestimmte nicht ihr Leben voraus, es gab ihnen lediglich die Möglichkeit, immer wieder zueinander zu finden. Ihre Bestimmung hatten sie selbst gewählt, indem sie die Menschen wurden, die sie heute waren. Polly liebte es, die Geschichten anderer zu erzählen, Sam liebte es, den Moment einzufangen, und sie liebten einander. Das war alles, was zählte und alles, was sie von Leben zu Leben mitnahmen. Das waren sie, Sam und Polly.
Inzwischen weinte Polly Tränen der Erleichterung. Sie hatte verstanden. Sam liebte sie, nicht weil das Schicksal es so wollte, sondern weil er sich irgendwann einmal dafür entschieden hatte. Er liebte sie, ihre Seele, das, was sie ausmachte, vor einer Woche, vor fünfzig Jahren, vor hundert Jahren und mit ein bisschen Glück auch noch morgen.
Eilig raffte sie ihre Sachen zusammen und rannte beinahe aus dem Gebäude. Vor lauter Hektik verlief sie sich, suchte ewig nach einem Taxi und war völlig außer Atem, als sie sich schließlich auf den Rücksitz eines L.A. Yellow Caps fallen ließ. Ihr nächstes Ziel war der Woodlawn Cemetry , der Friedhof, den Sam ihr genannt hatte. Vor dem Eingang blieb sie eine Weile stehen. Wollte sie diesen Schritt wagen? Reichten ihre bisherigen Erkenntnisse nicht längst aus? Polly schüttelte den Kopf. Sie war bereit für die Rückkehr nach Deutschland, aber sie würde diesen Weg zunächst bis zu Ende gehen.
Der Friedhof sah genauso aus, wie sie es erwartet hatte. Der Großteil der Fläche war von Rasen bedeckt, in den die beschriften Grabplatten eingelassen waren. Mit weichen Knien lief Polly die Gräber entlang. Den genauen Grabplatz hatte sie im Verwaltungsbüro erfragt. Plötzlich blieb ihr Blick an einer der Platten hängen. Ein Name hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Es war ihr eigener. Pollys Knie gaben nach und sie sank vor dem Stein auf den Boden. Mit zittrigen Fingern fuhr sie die Buchstaben und Zahlen ab. In loving Memory. 1899 bis 1980 stand unter dem Namen. Polly konnte kaum atmen. Eine Mischung aus Angst, Trauer und Ehrfurcht hatte sie ergriffen. Sie kniete vor ihrem eigenen Grab und war doch am Leben. In der Erde lag ein Körper, der dem ihren nicht unähnlich gewesen war, wenn auch deutlich älter. Sie war 81 Jahre alt geworden, hatte noch zwölf Jahre ohne Sam weitergelebt.
Polly saß lange an ihrem Grab, trauerte um ihr vergangenes Leben und freute sich gleichzeitig über die Chance, die ihnen ihr eigenartiges Schicksal bot. Die Chance, sich wieder und wieder zu lieben.
Als sie sich endlich auf den Weg zu Sams Grabstätte machte, stellte sie fest, dass sie ganz in der Nähe lag. Sam 1899 bis 1968. Bis ich Dich wiederfinde. stand auf dem Stein. Sofort fiel Polly auf, dass Sams Grabstein einer der wenigen war, auf dem die Worte den Daten folgten und nicht umgekehrt. Die Bedeutung hatte damals sicher nur Polly selbst gekannt und auch heute erschloss sie sich nur zwei Menschen: Sam und ihr. Damals hatte Polly gewusst, Sam würde nur so lange tot sein, bis sie in ihrem nächsten Leben wieder zueinander fanden. Sie hatte bestimmt getrauert, aber sicher auch die Hoffnung gehabt, ihre verwandte Seele wiederzufinden.
Während sie vor Sams Grab saß, musste Polly sich wieder vor Augen führen, dass Sam nicht dort unten war, genauso wenig wie sie in ihrem Grab lag. Es waren lediglich ihre Körper. Und vielleicht waren noch nicht einmal mehr die in diesen Gräbern. Das Schicksal hatte ihnen
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