Augenblicklich ewig
seines Anzuges ihm beinahe die Luft abschnürte. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war, dann sah er Polly. Sie trug ein bauschiges Kleid aus dunkelroter Seide, das ihren Hals und ihre Schultern freigab. An den Armen türmte sich der Stoff auf wie ein Ungetüm, ebenso an ihren Hüften. Die Haare hatte sie lose im Nacken zusammengesteckt. Sie wirkte fremd und altmodisch auf ihn. Es war nicht Polly, lediglich eine Frau, die ihr ähnelte, in einem Monstrum aus Seide. Erst als sie die Hand nach ihm ausstreckte und ihn anlächelte, erkannte er sie. Ihre hellblauen Augen nahmen ihn auf der Stelle gefangen und zogen ihn magisch an.
Sams Herz raste, sein Atem ging hektisch. Instinktiv griff er an seinen Hals. Nichts schnürte ihm die Luft ab. Es war lediglich ein Traum gewesen. Er schnaubte. Noch nie zuvor hatte er einen solch realistischen Traum gehabt und schon gar nicht von einer Frau. Selbstverständlich träumte er gelegentlich von einer weiblichen Begleitung, aber niemals von einer konkreten. In seinen Träumen waren die Damen namen- und gesichtslos. Aber nicht Polly. Er hatte sie erkannt, obwohl sie vollkommen fremdartig ausgesehen hatte. Kaum zu glauben, die Frau schien ihm den Kopf verdreht zu haben. Vielleicht sollte er sie wiedersehen? Ausgeschlossen. Sie war eindeutig nicht so sehr auf Amüsement aus, wie er gedacht hatte. Für den Fall, dass sie doch auf der Suche nach dem Mann fürs Leben war, würde er mit einem Besuch nur unnötig Öl ins Feuer gießen.
Da es bereits hell war, zog Sam sich an und betrat wenig später das Speisezimmer seines Onkels.
»Samuel, guten Morgen. Setz dich. Iss mit mir.«
»Guten Morgen, Onkel. Gerne.« Sam rückte seinen Stuhl zurecht und nahm Platz. Das Dienstmädchen trug umgehend ein Gedeck samt frischen Brötchen, Wurst und Käse für ihn auf und goss Kaffee in seine Tasse. Obwohl er es seit früher Kindheit gewohnt war, bedient zu werden, fühlte er sich nicht wohl dabei. Er hatte zwei gesunde Hände und konnte sich selbst Kaffee einschenken. Aber er wusste, es hätte seinem Onkel nicht gefallen, wenn er sich selbst bediente, also fügte er sich. Er war dem Mann, der ihn nach dem Tod seiner Eltern ohne zu zögern aufgenommen hatte, zu Dank verpflichtet. Und er achtete ihn sehr. Sein Onkel arbeitete hart für seine kleine Eisenfabrik, um den Betrieb und den Wohlstand aufrecht zu halten. Er war häufig unterwegs und sie unterhielten sich viel zu selten länger als ein paar Minuten. Sam war froh über diese Gelegenheit.
Sein Onkel blickte von seiner Zeitung auf. »Wie kommst du mit deiner Ausstellung voran, mein Junge?«
»Es fügt sich langsam zusammen. Ich habe dem Galeristen vor ein paar Wochen drei Bilder vorgelegt, um ihn zu überzeugen. Es war ausgerechnet ein Portrait, das ihn schließlich beeindruckt hat. Ich hatte ursprünglich das Foto einer deiner Maschinen als Trumpfkarte geplant. Auf dem Bild wirkt sie beinahe lebendig. Aber es war die Aufnahme eines Arbeiters am Straßenrand in der Mittagssonne, die den Mann letztendlich überzeugt hat. Er behauptete, ich hätte dem Mann bis auf den Grund seiner Seele gesehen und diese eingefangen.«
Sein Onkel nickte. »Du hast Talent, mein Junge. Warum sollte der Mann das nicht erkennen?«
Sam seinerseits freute sich über das Lob, auch wenn er nicht sicher war, ob es gerechtfertigt war. Zumindest hatte der Galerist erkannt, worum es ihm in seinen Aufnahmen ging. Um die Geschichte des Motivs, um das Gesicht hinter der Fassade. »Wie dem auch sei. Am Ende haben wir uns darauf geeinigt, dass ich ihm eine vorläufige Auswahl zusammenstelle. Derzeit schaut sich der Galerist meine Fotos an und sucht diejenigen aus, die er ausstellen will. Ich kann nichts weiter tun, als zu warten.«
»Hab Geduld, Samuel. Der Mann versteht sicher genug von seinem Handwerk, um die Ausstellung zu einem Erfolg zu machen.«
»Das hoffe ich«, antwortete Sam. »Irgendwann einmal will ich nicht mehr auf das Fotografieren von Portraits und Familienfotos angewiesen sein, sondern stattdessen meine Motive frei wählen können. Mit der Ausstellung rückt diese Chance ein wenig näher - auch wenn sie immer noch reinstes Wunschdenken ist.« Sein Onkel hatte Sams Wunsch, Fotograf zu werden, nie so recht verstanden, ihn aber dennoch immer unterstützt. Erst seit Sam sich an den Haushaltsausgaben beteiligte, war er überzeugt davon, dass sein Neffe mit seinen Fotos auch seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
»Du weißt, ich verstehe nicht viel
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