Aurora
Mo-
nate, nachdem Hölle-Fünf seinen neuen Namen angenom-
men hatte, stellte sich der Erfolg ein, und andere Habitate bezahlten stattliche Summen für das attraktive neue Ausfuhrprodukt.
Das Ausfuhrprodukt war menschliches Elend.
Einmal im Monat wurde per Zufall einer der superreichen Bürger des Habitats ausgewählt, um gefoltert zu werden.
Seine Qualen wurden durch medizinische Eingriffe verlängert, bis der Tod schließlich nicht mehr aufzuhalten war.
Über den Verkauf von Senderechten und dadurch, dass die Bürger anderer Habitate - oft genug im Zuge einer Verstei-gerung - die Möglichkeit bekamen, eine bestimmte Folter-methode zu unterstützen, floss das Geld in Strömen in die Kassen von Hölle-Fünf.
Gaffney fühlte sich von dem System in tiefster Seele ab-gestoßen. Er hatte auf seinen Reisen durch das Glitzerband viele extreme Gesellschaftsformen erlebt, aber die Verwor-fenheit von Hölle-Fünf war ohne Beispiel. Schon ein kurzer Blick auf eine der Folterungen, die gerade im Gang waren, erschütterte ihn bis ins Mark. Er gelangte zu der festen Überzeugung, dass Hölle-Fünf ganz einfach widernatürlich sei, ein gesellschaftliches Monstrum, das es zu korrigieren, wenn nicht gar auszulöschen gelte.
Aber Panoplia - und damit auch Gaffney - konnte nichts
tun, um dem Zustand ein Ende zu bereiten. Panoplia war
nur für Sicherheits- und Stimmrechtsfragen zuständig, die das Glitzerband in seiner Gesamtheit betrafen. Die Organisation hatte - immer vorausgesetzt, die Aktivitäten verstie-
ßen nicht gegen ein Technik- oder Waffenembargo oder verletzten das freie Wahlrecht der Bürger - keinerlei Einfluss darauf, was in einzelnen Habitaten vor sich ging; dafür waren ausschließlich die örtlichen Gendarmerien zuständig.
Somit hatte sich Hölle-Fünf nichts zuschulden kommen
lassen.
Gaffney sah sich außerstande, sich mit dieser Sachlage
abzufinden. Das Phänomen der Folterstaaten und die kol-
lektive Weigerung der Bürger, für ihre Abschaffung zu sorgen, waren für ihn der Beweis, dass das Volk mit einer Freiheit ohne Grenzen überfordert war. Und man konnte nicht einmal darauf bauen, dass Panoplia einschritt, wenn ein moralischer Krebs das Glitzerband zu zerfressen begann.
Er erkannte, dass etwas geschehen musste. Man hatte zu
viel Macht an die Habitate abgegeben. Um ihrer Sicherheit willen musste wieder eine Zentralregierung eingesetzt werden. Natürlich würden die Bürger niemals dafür stimmen; selbst gemäßigte Staaten zögerten, einer Organisation wie Panoplia zu große Vollmachten zuzugestehen. Aber Not
kannte kein Gebot, auch wenn sich die Bevölkerung noch
so sehr dagegen sträubte. Die Kinder spielten mit dem
Feuer: Ein Wunder, dass noch kein größerer Brand ausge-
brochen war.
Gaffney hatte angefangen, seine Gedanken in seinem Ta-
gebuch niederzulegen, um auf diese Weise die eigenen
Wertvorstellungen zu klären und zu ordnen. Er sah, dass Panoplia sich ändern - dass es vielleicht sogar aufgelöst werden musste, wenn man das Volk nicht seinen niedersten I rieben ausliefern wollte. Er war sich bewusst, dass seine Ideen ketzerisch waren; dass sie allem widersprachen,
wofür Sandra Vois Name seit zweihundert Jahren stand.
Aber Geschichte wurde nicht von den Vernünftigen oder
den Vorsichtigen geschrieben. Auch Sandra Voi war weder das eine noch das andere gewesen.
Wenig später war ihm Aurora zum ersten Mal erschie-
nen.
»Du bist ein guter Mann, Sheridan. Dennoch fühlst du
dich so verlassen, als hätten alle um dich herum ihre wahren Pflichten vergessen.«
Beim Anblick des Gesichts, das plötzlich seinen gesi-
cherten Privatbildschirm füllte, hatte er gestutzt. »Wer bist du?«
»Jemand, der so denkt wie du. Ein Freund, wenn du
willst.«
Er befand sich im Innern von Panoplia. Wenn sie sich
ihm zeigen konnte, musste sie sich ebenfalls im Habitat befinden. Doch er hatte schon damals gewusst, dass das nicht der Fall war. Aurora konnte sich überall unbemerkt ein-schleichen und ließ sich von keiner Wand und keiner Tür, ob real oder virtuell, aufhalten. Wenn sie eine Beta- oder Gamma-Persönlichkeit war, dann war sie unvergleichlich
intelligent und mobil.
»Bist du ein Mensch?«
Die Frage hatte sie sichtlich belustigt. »Spielt es wirklich eine Rolle, was ich bin, solange wir die gleichen Ideale haben?«
»Meine Ideale gehen nur mich etwas an.«
»Jetzt nicht mehr. Ich habe gesehen, was du geschrieben und welche Theorien du entwickelt hast.« Er hatte die
Weitere Kostenlose Bücher