Aurum & Argentum (German Edition)
rutschte weg. Dadurch verlor der Kentaur das Gleichgewicht und landete auf dem Bauch am Boden. Flux schreckte zusammen.
„ Das ist alles meine Schuld!“, klagte er und ihm war hundeelend. „Jetzt wird das Biest uns beide fressen!“ Er war noch nie ein furchtsames Kind gewesen, doch nun durchlitt er eine Todesangst wie nie zuvor in seinem Leben. Vorsichtig schielte er hinter dem Pferderücken seines Bruders hervor. Der Mantichora nahm ihn sofort ins Visier, er zog die Lippen hoch und Geifer rann aus seinem menschenähnlichen Mund.
„ Bitte sei gnädig“, Leon konnte es selbst kaum fassen, dass er diese Worte herausbrachte, „mach mit mir, was du willst, aber verschone ihn, er ist doch noch ein Kind.“ Flehend sah Leon das Untier an, dieses wandte sich nun wieder von Flux ab. Es holte tief Luft und schnaubte lautstark. Leon glaubte schon, ihm würde vor Angst das Herz stehen bleiben, als sich das verzerrte Gesicht der Bestie langsam aufhellte. Aus der schauderhaften wilden Fratze wurde das Gesicht eines weisen alten Großvaters, der sich sehr dafür schämte, so laut mit seinem Enkelkind geschimpft zu haben. Flux schnappte nach Luft und der Mantichora stieß ein tiefes Seufzen aus.
„ Niemals zuvor“, begann der Mantichora nun mit einer tiefen Stimme und voller Gerührtheit zu sprechen, „in meinem ganzen Leben, habe ich eine derartige Selbstaufopferung gesehen.“
Schnaufend holte das Tier noch einmal Luft, dann legte es sich nieder ins Gras, zog die Krallen ein und bettete sein Haupt auf die großen Vordertatzen. „Du warst bereit, für den kleinen Elf dein Leben zu geben. Der Knabe sollte dem Himmel danken, dass er dich kennt, Kentaur.“
In der Tat, Flux schickte soeben ein Stoßgebet zum Himmel und Leon verlor komplett den Überblick.
Der Mantichora schien nun wohlwollend zu lächeln: „Ich werde euch selbstverständlich verschonen und mein Gift wird auch keinen bleibenden Schaden bei dir verursachen, Kentaur. Es wird lediglich dein Bein eine Zeit lang lähmen, aber es kommt alles wieder in Ordnung.“
Ungläubig starrte Leon die Bestie an, die sich binnen Sekunden scheinbar in ein friedvolles Lamm verwandelt hatte. „Ich muss mich sehr für meinen Wutausbruch entschuldigen“, der Mantichora räusperte sich, als wäre es ihm sehr peinlich, „aber dabei könnt ihr eigentlich noch von Glück sagen, dass ihr keinem meiner rot gefärbten Artgenossen aus den Bergen begegnet seid. Ihr Gift ist wirklich tödlich.“
Einen Moment lang herrschte Stille, Flux’ Blick fiel auf die Stacheln, die seinem Bruder noch immer im Hinterbein steckten, eilig zog er sie heraus.
„ Ja, es tut mir wirklich aufrichtig leid“, nahm wieder der Mantichora das Gespräch auf, „ihr habt soeben Bekanntschaft mit meiner dunklen Seite gemacht. Ihr müsst wissen, dass wir Mantichora zwei Persönlichkeiten haben: Eine friedvolle und freundliche und eine grausame und wilde. Als mich dein Pfeil traf, erwachte die Bestie in mir. Sie kann von meinem logisch denkenden Ich nicht kontrolliert werden, sie ist wie ein eigenständiges Individuum.“
Flux sah ihn skeptisch an.
„ Ja, du hast Recht“, ächzte der Mantichora, „bei jedem anderen Geschöpf würde man es eine gespaltene Persönlichkeit nennen. Bei uns Mantichora ist es der Normalzustand.“
Flux verschränkte die Arme, normal war für ihn etwas ganz anderes!
„ Jeglicher Schmerz oder eine ungeheure Beleidigung lassen mich in wilde Raserei verfallen, doch zu eurem Glück konnte deine Selbstlosigkeit in mir wieder den Verstand wecken. Du musst wirklich sehr mutig sein, Kentaur, und dieser Elf ist dir offenbar sehr wichtig.“
Leon schluckte trocken, in Wahrheit bedeute Flux ihm die Welt. Er war die wichtigste Person in seinem Leben, nicht einmal seine Zieheltern bedeuteten ihm derart viel.
Der Mantichora lächelte noch immer und Flux spürte, wie sein schlechtes Gewissen immer schwerer wog, durch seine Dummheit hätten sie ihr Leben verlieren können. Tränen stiegen ihm in die Augen. Als Leon das sah, drückte er den Kleinen kurz an sich.
„ Wir müssen jetzt umkehren, nicht wahr?“, schniefte Flux. Leon musste gründlich darüber nachdenken, sein Bruder hatte sie sicher nicht absichtlich in Gefahr gebracht. Außerdem wusste er, wie sehr die Reise den Kleinen erfreute. Auf der anderen Seite waren sie natürlich auch nicht davor gefeit, von noch größeren, stärkeren und gefährlicheren Bestien angegriffen zu werden.
Flux wischte sich die Tränen aus
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