Aus Dem Dunkel
Helen früher nie hatte fahren dürfen. Gabe war einen Moment erleichtert stehen geblieben, als er seinen Wagen wiedergesehen hatte, den er ganz offensichtlich als den erkannte, den er vor fünf Jahren in Kalifornien gekauft hatte. Und er schien nicht im Geringsten ärgerlich darüber zu sein, dass Helen ihn nun benutzte.
Es war fast Mittag. Sie hatten zwei Stunden gebraucht, um alle Formulare für seine Entlassung aus dem Krankenhaus auszufüllen. Es hätte auch länger dauern können, wenn der Master Chief nicht dort gewesen wäre, um die Dinge etwas voranzutreiben, indem er das Personal entweder herumscheuchte oder beschwatzte, ohne ein einziges Mal seine Stimme zu erheben. Helen hatte Sebastian schon immer gemocht. Seine Ausgeglichenheit ergänzte Gabes eher aufbrausendes Temperament.
An diesem Morgen allerdings war Gabe überraschend geduldig gewesen, wenn man bedachte, dass sie mehr als eine Stunde hatten warten müssen, bis all seine Rezepte ausgestellt waren. Vielleicht war er einfach zu deprimiert oder stand zu sehr unter dem Einfluss von Medikamenten, um sich aufzuregen. Die Navy hatte ihn arbeitsunfähig geschrieben, und das bedeutete, dass seine Zukunft völlig ungewiss war, bis er sein Erinnerungsvermögen wiedererlangte. Und das konnte einen Tag, aber genauso gut auch ein Jahr dauern, wie Commander Shafer erklärt hatte.
Helen war klar, dass ihre neue Freiheit noch warten musste. Und da es offenbar nicht damit getan war, Gabe noch für wer weiß wie lange um sich zu haben, hatte Helen auch zugestimmt, ihn zu den regelmäßigen Untersuchungen zu bringen, da er in seinem Zustand nicht Auto fahren durfte.
Als sie schließlich ihr eigenes Leben bis auf Weiteres abgeschrieben, Gabes Formulare ausgefüllt und ihn auf dem Beifahrersitz verstaut hatte, ging ihr langsam die Geduld aus. Sie hatten noch eine halbe Stunde Fahrt zu ihrem Haus vor sich, und da Gabes Erinnerungen an die vergangenen drei Jahre in den Tiefen seines Gehirns verschwunden waren, hatte sie keine Ahnung, worüber sie mit ihm sprechen sollte. Also redete Mallory die ganze Zeit, während Gabe aus dem Fenster sah.
Sie waren inzwischen fast zu Hause und fuhren bereits den Sandfiddler Drive entlang, neben dem die Wellen des Atlantiks an den Strand schlugen. Obwohl es mitten in der Woche war, wimmelte es von Touristen, die für eine Woche Freiheit die kleinen Holzhäuser am Meer gemietet hatten.
Ihr eigenes Haus lag hundert Meter vom Ufer entfernt, dort, wo die Straße am Hintereingang der Dam Neck Marinebasis ins Landesinnere abbog und es deswegen nicht so leicht von einem Hurrikan davongetragen werden konnte.
»Das da?«, fragte Gabe und spielte Mallorys Spiel mit. Er deutete auf ein märchenschlossartiges Gebäude mit Türmchen und Zinnen.
Mallory lachte. »Nein, das nicht.«
Helen versuchte, ihn nicht anzusehen. Spielte er dieses Spiel mit Mallory, weil er nichts Besseres zu tun hatte? Er hatte früher immer so abwesend gewirkt, als wäre er mit seinen Gedanken meilenweit entfernt gewesen.
»Oh, jetzt weiß ich«, sagte er und klang diesmal sehr überzeugt. »Gleich kommt es. Es ist auf der linken Seite.« Er zeigte auf ein Haus aus Glas und Stahl, das genauso gut ein Museum für moderne Kunst hätte sein können.
»Nein!«, rief Mallory. Es machte ihr offensichtlich großen Spaß.
Helen warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Sie hatte bisher geglaubt, dass ihre Tochter ohne Gabe glücklicher gewesen war. Offensichtlich war das nicht der Fall. Ihre grünen Augen leuchteten in einer Weise, wie sie es seit Monaten nicht mehr getan hatten.
Während Helen alle möglichen Gedanken durch den Kopf schossen, parkte sie den Jaguar in ihrer Einfahrt neben dem Jeep, der nicht mehr ansprang. Ihr Haus war ein bescheidener Holzbau, der auf einem Dutzend Pfählen saß. Es hatte zwei Stockwerke, mit einem Hauswirtschaftsraum, einer Dusche und einer Werkstatt im Erdgeschoss. Treppenstufen verliefen im Zickzack zur Eingangstür. Über die gesamte rechte Seite zog sich ein Balkon, von dem aus man sowohl in den Garten vor dem Haus als auch nach hinten auf den Atlantik sehen konnte. Wildblumen übersäten den hellen Sand mit Farbtupfern, sodass er aussah wie ein Gemälde von Monet. Helen hatte viel Energie aufgewandt, damit sich Baldrian, Kaffeekraut und Schwarzäugige Susannen dort heimisch fühlten. Sie warf Gabe einen Blick zu, um abzuschätzen, was er davon hielt.
Er starrte das Haus an, als habe es noch nie zuvor gesehen. Was für ein
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