Aus der Hölle zurück
fortschieben und wieder zurückbringen mußten. Diejenigen, die den gefrorenen Boden aufhacken mußten, hatten die schwierigste Aufgabe. Sie mußten mit der Kreuzhacke zuschlagen, bevor sie die Karren mit Kies beladen konnten. Das aber dauerte sehr lange, und durch die Arbeit waren sie restlos ausgepumpt.
Gegen Mittag kam wieder einer der Häftlinge durch den Karabinerschuß eines SS -Schergen um. Das war so: Der Häftling war furchtbar ausgezehrt und hatte Durchfall. Er wandte sich an den SS - Posten und bat ihn, seine Notdurft dicht beim Arbeitsplatz verrichten zu dürfen. Der SS -Mann erlaubte ihm das, aber als er sich zurückmeldete, riß er ihm die Mütze vom Kopf und warf sie fort – weit hinter die Postenkette. Dem Häftling befahl er, die Mütze zu holen und sich zurückzumelden. Als der Häftling losging, setzte der SS -Mann das Gewehr an und erschoß den Unglückseligen von hinten. Von den mit mir zusammen arbeitenden Kollegen erfuhr ich, daß die SS -Leute für das Erschießen eines Häftlings »auf der Flucht« – so nannte sich das – zwei Tage Urlaub bekamen. Was war das Leben eines Häftlings schon wert! Für den SS -Mann nichts. Wichtig war der Urlaub.
Diese entsetzliche Verlogenheit, diese »gesetzliche Sanktionierung« des Mordes, konnte den standhaftesten und widerstandsfähigsten Häftling zur Verzweiflung bringen. Ich war zu jung, als daß ich mir des perfiden Vorgehens der SS -Leute vollauf bewußt werden konnte, doch allmählich kam eine gewaltige Abneigung und Auflehnung in mir auf. Um so dringender wollte ich überleben, um den Tod so vieler unschuldiger Menschen zu rächen. Die Hände ballten sich zur Faust, aber man durfte die Selbstbeherrschung nicht verlieren. Ein Mensch war erschossen worden. Es war nichts geschehen. Ein gewöhnliches Vorkommnis. Man mußte weiterarbeiten und so tun, als habe man den Tod nicht bemerkt.
Die Rückkehr ins Lager fiel mir an diesem Tag besonders schwer. Mich quälte ein Schwindelgefühl, in meinen Ohren rauschte es ununterbrochen. Zeitweise wußte ich nicht, was mit mir los war. Nur mühsam schleppte ich mich ins Lager und stand in der Reihe der zum Appell Angetretenen. Langsam fielen leichte Schneeflocken herab. Wir standen ziemlich lange vor dem Block. Der Abend brach an, und nur wenige Lichter innerhalb des Lagers erhellten den Platz, auf dem wir Häftlinge standen. Hell beleuchtet war nur der Stachel drahtzaun rings um das Lager. Ich stand irgendwie betäubt da. Alle Augenblicke sank mein Kopf herab. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich konnte mich nur mühsam auf den Beinen halten.
Abb. 6
KZ Auschwitz. SS -Wachmannschaften.
Schließlich kam der Blockführer. Der Blockälteste gab das Kommando »Mützen ab!« und in dem Augenblick fiel ich besinnungslos und gefühllos zu Boden. Das Bewußtsein erlangte ich erst wieder neben der Treppe, inmitten anderer Häftlinge, die kein Lebenszeichen mehr von sich gaben. Zwei nicht übel aussehende Häftlinge zogen mir die besohlten Schuhe aus. Sie rissen mir beinahe die Beine ab. Dadurch kam ich zu mir. Der eine meinte zum andern: »Verflucht noch mal, erst einen Monat im Lager, und schon kratzt der Hurensohn ab. Schade um die Schuhe. Zieh doch richtig, verflucht noch mal!« Endlich gelang es ihnen, und nur noch in Socken lag ich weiter auf der Erde. Nach dem Appell kontrollierten zwei Stubenälteste, ob ich noch lebe. Sie ergriffen mich an Händen und Füßen und trugen mich dann zum Häftlingskrankenbau. Auf dem Fußboden des Flurs im Block 28 ließen sie mich liegen. Ich war überrascht. In meiner Manteltasche entdeckte ich eine Scheibe Brot. Der eine Stubenälteste war ein Pole, er wußte, was mit mir passieren konnte. Als sie mich vom Block in den Krankenbau brachten, hatte er mir das gegeben, was für den Häftling am wertvollsten war – ein Stück Brot.
Auf dem Flur befanden sich viele, denen es ähnlich ging wie mir. Die einen lagen auf dem Betonfußboden, die andern lehnten an der Wand und versuchten mühsam, das Gleichgewicht zu halten. Ich erhob mich ebenfalls, denn das Schwindelgefühl schien verflogen zu sein. Es erschienen zwei weißgekleidete Häftlinge. Der Reihe nach brachten sie uns in einen der Räume. Dort im Zimmer quälte mich die Frage, was mit mir geschehen werde. Schließlich fragte mich der hinter dem Tisch sitzende, in weißes Drillichzeug gekleidete Häftling: »Was fehlt dir?« »Ich bin beim Appell ohnmächtig geworden«, antwortete ich verschüchtert. »Quatsch nicht
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