Aus der Welt
sofort: »Mach dir keine Sorgen wegen Emily. Ich werde auf sie aufpassen, bis du zurückkommst.«
»Ich dachte, Mom würde ihre Enkelin vielleicht doch noch gern kennenlernen.«
»Als mein Vater Krebs im Endstadium hatte, war er so weggetreten, dass er mich kaum noch wiedererkannte. Und wenn deine Mom bisher kein Interesse daran gezeigt hat, Emily kennenzulernen, bringt es jetzt auch nichts, so ein kleines Mädchen dem Horror einer Intensivstation auszusetzen. Das ist ein Kindheitstrauma, das du ihr wirklich ersparen kannst.«
Ich stimmte ihr zu und fuhr am nächsten Tag allein zum Stamford Medical Center. Auf der dreistündigen Fahrt nach Süden fühlte ich mich einfach nur erschöpft. Nicht, weil ich meine Mutter im Endstadium von Krebs sehen würde, sondern wegen der vielen verschwendeten Jahre, die wir gemeinsam auf dieser Welt verbracht hatten. Wir hatten einander nie glücklich machen, nie jenen Graben überwinden können, der Abneigung und Zuneigung voneinander trennt. Zwischen uns stimmte rein gar nichts. Und das wussten wir – hatten es immer gewusst –, ohne etwas daran ändern zu können.
Und jetzt …
Mom lag in einem Dreibettzimmer auf der Onkologiestation. Ich senkte den Kopf, als ich an ihren Zimmergenossen vorbeiging, die an Drähte, Kabel, Schläuche, Monitore und derlei mehr angeschlossen waren, die sie am Leben erhielten. Mom war vergleichsweise frei von solch komplexer Technik. Es gab nur zwei Schläuche, die jeder in einen Arm führten, und einen Monitor, über den der regelmäßige Rhythmus ihres noch schlagenden Herzens flirrte.
Ihr Anblick erwischte mich kalt. Obwohl ich darauf vorbereitet war, sie in den Klauen des Todes zu sehen, konnte mich nichts auf die erschreckende Veränderung vorbereiten, die sie durchgemacht hatte. Sie hatte nicht nur sämtliche Haare verloren, sondern war auch geschrumpft. Aschfahle Haut spannte sich über ihren mittlerweile winzigen Schädel. Als sie den Mund öffnete, konnte ich sehen, dass nur noch ungefähr die Hälfte ihrer Zähne übrig war. Der Krebs hatte triumphiert und ihr jede Individualität genommen. Aber als ich mich neben sie setzte und ihre noch warme, ausgemergelte Hand nahm, überzog sie mich sofort wieder mit boshaften Bemerkungen.
»Aha … du kommst also, kurz bevor der letzte Vorhang fällt«, sagte sie.
»Ich bin gekommen, um dich zu sehen, Mom.«
»Aber deine Tochter hast du nicht mitgebracht. Das wäre meine einzige Chance gewesen, sie zu sehen, und sogar die versagst du mir.«
Reg dich nicht auf. Reg dich nicht auf.
»Ich habe dir nie verboten, sie zu sehen«, sagte ich leise. »Du hast dir verboten, sie zu sehen.«
Sie zog ihre Hand weg.
»Das ist wohl Auslegungssache«, sagte sie.
»Ich hielt den Moment für nicht sehr geeignet, Emily …«
»Dein Vater hat mich neulich angerufen«, sagte sie plötzlich.
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Dein Vater hat mich angerufen. Und mir gesagt, dass es ein Riesenfehler war, mich zu verlassen. Er will in ein paar Tagen nach Stamford kommen und mich hier in diesem Krankenhaus noch einmal heiraten.«
»Verstehe«, sagte ich und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Und von wo hat Dad angerufen?«
»Aus Manhattan. Ich weiß, dass er Geschäftführer eines großen Metallkonzerns ist. All die schlimmen Sachen, die du mir über ihn erzählt hast, haben sich als Lügen entpuppt. Aber das wusste ich ja schon immer. Nicht nur als Lügen, Jane, sondern als Rufmord . Aber jetzt hat sich alles aufgeklärt, und dein Vater ist wieder obenauf. Er kommt morgen, um sein Ehegelübde mit mir zu erneuern.«
»Wie schön«, sagte ich.
»Das ist es auch. Die Zeremonie wird um zwölf Uhr mittags stattfinden.«
»Und er wird dir ewige Liebe schwören?«
»Ewige Liebe. Weil er mittlerweile weiß, dass es ein Riesenfehler war, mich zu verlassen. Er hat es mir am Telefon gesagt und ist beinahe zusammengebrochen. Er hat sich dafür verflucht, vor all den Jahren auf dich gehört zu haben, und …«
In diesem Moment stand ich auf und floh von der Station auf die nächste Toilette. Ich schloss mich in eine Kabine ein und zwang mich, nicht zu schreien oder auf die Wände einzuschlagen, nur um die Stimme dieser Frau aus meinem Kopf zu bekommen. Aber dieses Bedürfnis wurde von einem Schluchzen erstickt, das mir die Kehle zuschnürte. Meine Mom steht kurz davor, zu sterben. Und das Einzige, was sie mir sagen kann, ist …
Bevor mein Schluchzen sich zu etwas noch Wilderem, Extremeren auswachsen
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