Aus der Welt
einsam?«
Autsch! Das war ein Volltreffer. Aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und sagte: »Alles hat seinen Preis.«
Aber etwas geheim halten hat auch Vorteile. Keine Menschenseele erfuhr je etwas von meiner Affäre mit David Henry; dabei waren wir vier Jahre zusammen. Wahrscheinlich wären wir noch länger zusammengeblieben – ehrlich gesagt, denke ich oft, dass wir heute noch zusammen wären –, wenn er nicht gestorben wäre.
3
Vier Jahre mit David Henry.
Aus heutiger Sicht sind sie vergangen wie im Flug. Mit dem Zeitgefühl ist das so eine Sache: Der graue Alltag fühlt sich an wie eine Ewigkeit, und am Montag scheint das Wochenende in unendlicher Ferne zu liegen; aber im Rückblick geschieht wahnsinnig viel. Ein Fingerschnippen – schon ist die Kindheit vorbei, und man befindet sich mitten in der Pubertät. Schnipp – schon ist man auf dem College und gibt sich sehr erwachsen, obwohl man noch völlig unsicher ist. Schnipp – schon macht man seinen Doktor und empfängt seinen Professor an drei Nachmittagen die Woche zu einem Schäferstündchen in der Studentenbude. Schnipp – schon sind 48 Monate vergangen. Schnipp – schon stirbt David. Ganz plötzlich, einfach so, ohne Vorwarnung. Ein sechsundfünfzigjähriger Mann ohne Gesundheitsprobleme macht einen Fahrradausflug und …
Wie David so oft bemerkte, folgt allem, was wir tun, Ernüchterung. Wir bilden uns ein, einzigartig zu sein. Selbst wenn wir zu den Glücklichen gehören, die Einzigartiges leisten, werden wir zwangsläufig von der banalen Realität eingeholt. »Und die banalste Realität«, so David, »ist die, vor der wir uns am meisten fürchten: der Tod.«
Vier Jahre. Aber weil wir »auf der Bühne der Heimlichkeit agierten« (noch so eines meiner Lieblings-David-Zitate), gelang es uns, viele Banalitäten zu umschiffen. Wenn man mit jemandem zusammenlebt, ertappt man sich irgendwann dabei, über Kleinigkeiten wie unwichtigen Haushaltskram oder persönliche Macken zu streiten. Aber wenn man den Mann, den man liebt, nur drei Mal die Woche von vier bis sieben Uhr nachmittags sieht und er ansonsten nicht erreichbar ist, sind die gemeinsam verbrachten Stunden etwas ganz Besonderes. Nicht zuletzt, weil sie so etwas Unwirkliches haben.
»Wenn wir zusammenziehen würden«, sagte ich wenige Monate nachdem alles angefangen hatte, zu David, »wäre die Enttäuschung enorm.«
»Das ist aber nicht sehr romantisch.«
»Im Gegenteil, es ist sogar sehr romantisch . So bleibt es mir erspart herauszufinden, ob du Zahnseide benutzt oder nicht, deine schmutzige Unterwäsche unters Bett schiebst oder den Müll erst rausbringst, wenn schon die Kakerlaken …«
»Nein, nein und nochmals nein.«
»Gut zu wissen. Denn wenn du hier bist, gibt es in Sachen Körperhygiene nichts zu beanstanden.«
»Verstehe. Aber vielleicht zeige ich dir ja an unseren Nachmittagen nur meine Schokoladenseite.«
»Und wenn du ständig mit mir zusammen wärst …?«
Schweigen. Ich konnte sehen, wie ihn die Frage sofort nervös machte.
»Es ist nun mal so …«, sagte er schließlich.
»Ja?«
»… dass ich mich nach einem gemeinsamen Leben sehne.«
»Das hättest du nicht sagen dürfen.«
»Aber es ist die Wahrheit. Ich möchte jede verdammte Minute mit dir zusammen sein.«
»Aber das geht aus den verschiedensten Gründen nicht. Also warum, warum ? Sag’s mir!«
»Weil es mir sehr schwerfällt, von dir fortzugehen, von hier fortzugehen und …«
»… in das Leben zurückzukehren, das du nicht aufgeben willst. Nennt man so etwas nicht ein Paradox? Zumal ich mit der Situation gut klarkomme. Ich bin eben pragmatisch veranlagt. Und das beunruhigt dich, weil ich keine Forderungen stelle. Hättest du lieber eine geistesgestörte Furie, die dir vor deinem Haus auflauert und damit droht, dich beim Fakultätsvorsitzenden anzuzeigen, falls du eine Verabredung versäumst oder beschließt, die Sache zu beenden?«
»Ich würde das hier niemals beenden.«
»Gut zu wissen. Aber ich vielleicht, wenn du weiterhin behauptest, wie schwer dir der Abschied an unseren Nachmittagen fällt. Das hört sich für mich ganz nach einem Mann an, der bloß sein schlechtes Gewissen beruhigen will. Aber dafür bist du eigentlich zu klug, David.«
Zu seiner Verteidigung muss allerdings gesagt werden, dass er das Thema nie mehr anschnitt. Vielleicht reagierte ich deshalb so barsch darauf, weil ich so verrückt nach ihm war. Und ganz genau wusste, was passieren würde, wenn er weiterhin
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