Aus der Welt
trotzdem mein Interesse: Sie handelte von einer Elfjährigen, die unweit von Hamilton, Ontario, vermisst worden und zehn Tage später vor der Haustür ihrer Eltern wieder abgesetzt worden war. Sie hatte etwas von einer Entführung und sexuellem Missbrauch gestammelt. Der Artikel aus dem Hamilton Daily Record sprach von »polizeilichen Ermittlungen«, die nach ihrem Verschwinden und nach ihren Anschuldigungen eingeleitet worden waren. In einem späteren Artikel hieß es dann, ein »Vertrauter der Familie« sei von einem lokalen Polizeibeamten verhört worden. Man habe allerdings keine Anzeige gegen ihn erstattet.
Immerhin haben sie sie zurückbekommen , dachte ich, als ich den Artikel ausdruckte und meiner dicker werdenden Mappe zum MacIntyre-Fall hinzufügte.
Ich bezahlte für meine acht Stunden im Internet – gerade mal 12 Dollar –, als mein Handy klingelte. Zu meiner großen Überraschung war Vern am Apparat. Er klang nervös und angespannt.
»Ich dachte, ich erkundige mich mal, wie es dir geht«, sagte er.
»Hast du gehört, was passiert ist?«
»Du meinst, das mit der … äh … Polizei?«
»Mit der kanadischen Polizei, um genau zu sein.«
»Ja, ich hab’s gehört.«
»Marlene Tucker hat es bestimmt von Geraldine Woods erfahren und dann direkt …«
Vern ließ ein nervöses Hüsteln hören.
»Du weißt ja, wie sie hier aus einer Mücke einen Elefanten machen«, sagte er. »Hast du heute Vormittag Zeit für einen gemeinsamen Kaffee?«
»Ist irgendwas, Vern?«
»Nein … äh … ich würde dich nur gerne sehen, falls es dir nicht zu früh ist oder so.«
»Ich bin schon seit Stunden wach. Kennst du das Café Beano?«
Wir beschlossen, uns in einer halben Stunde dort zu treffen.
Obwohl Calgary stylemäßig nicht gerade New York war, gingen im Café Beano Leute ein und aus, die sich kleideten, als wohnten sie in SoHo. Als Vern mit seinem schokoladenbraunen Anorak, dem dazu passenden schokoladenbraunen Cordkäppi und seiner grauen Polyesterhose auftauchte, drehte sich alles nach ihm um. Auf einmal bereute ich es, mich hier mit ihm verabredet zu haben. Ich spürte regelrecht, wie unwohl er sich in der ungewohnten Umgebung mit schwarzen Lederjacken, Designerbrillen und fünfzehn verschiedenen Kaffeesorten fühlte.
Er setzte sich nervös zu mir an den Tisch.
»Gibt es hier auch ganz normalen schwarzen Kaffee?«, fragte er.
»Bestimmt«, sagte ich. Nachdem ich ihm eine Tasse gebracht hatte, setze ich mich ihm gegenüber.
»Also …«, sagte ich.
»Also …«, sagte er.
»Das war ja ein ziemliches Besäufnis am letzten Sonntag.«
»Das ist mit ein Grund, warum ich hier bin. Es ist mir furchtbar peinlich, mich in deiner Gegenwart dermaßen zugeschüttet zu haben.«
»Ich war auch nicht gerade abstinent.«
»Ich weiß, aber ich hasse mich, wenn ich das tue.«
»Dann lass es bleiben.«
»Ich brauch das ab und zu.«
»Dann solltest du deswegen auch kein schlechtes Gewissen haben. Ich hatte keines.«
»Wirklich?«
»Aber ja.«
»Als ich diese Woche von … äh … von deinen Problemen mit dem Gesetz erfahren habe, dachte ich, wer weiß … Wenn ich dich nicht zu diesem Marathonbesäufnis überredet hätte, dann …«
»Du meinst, weil ich George MacIntyre im Kneipenfernsehen gesehen habe?«
»Ja.«
»Und deswegen machst du dir Vorwürfe?«
»Na ja …«
»Meine Güte, dabei dachte ich, ich müsste ein schlechtes Gewissen haben!«
»Geht es dir jetzt wieder gut?«
» Davor ging es mir nicht gut. Ich habe mir einfach in den Kopf gesetzt, dass die Polizei den Falschen verhaftet hat.«
»Ist das so?«
»Interessiert dich das wirklich?«
»Natürlich.«
»Ganz ehrlich?«
»Ich habe Ja gesagt.«
Ich legte los und muss die nächste Dreiviertelstunde, ohne Luft zu holen, durchgeredet haben. Ich konnte einfach nicht aufhören. Während ich ihm den Fall Ivy MacIntyre schilderte – die Schuldfrage stellte und den Verdacht äußerte, hier könnte ein furchtbarer Justizirrtum vorliegen –, wühlte ich immer hektischer in meinen Unterlagen herum. Erst viel später – als ich mich an diesen kreuzverhörartigen Monolog erinnerte, bei dem ich alles anführte, was für und was gegen George MacIntyre sprach – wurde mir ganz schlecht bei der Vorstellung, wie geistesgestört ich geklungen haben musste. Vern hatte einfach nur dagesessen und über meinen Redestrom gestaunt, mitbekommen, wie mich die anderen Café-Besucher anstarrten, die ein wenig angewidert waren, dass diese Frau jemanden
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