Aus der Welt
beschriftet sind. »Kannst du ein Wort legen?«, frage ich – und sie lacht und wirft einen Klotz quer durchs Zimmer.
Emily krabbelt das erste Mal durchs Wohnzimmer, dorthin, wo ich gerade Arbeiten benote. Sie greift nach einem Buch auf dem Boden, hält es verkehrt herum und sagt ihr erstes Wort: »Mommy.«
Emily nimmt einen Stift und kritzelt Linien auf einen leeren Block. Sie spricht ihr zweites Wort: »Wort.«
Emily bekommt eine scheußliche Grippe, ihre Körpertemperatur steigt auf über 40 Grad Celsius. Der Kinderarzt schaut mitten in der Nacht vorbei und warnt mich, dass sie ins Krankenhaus muss, wenn das Fieber nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sinkt. Meine Tochter wimmert, als das Fieber die Atmung unregelmäßig werden lässt, und kann noch nicht mal artikulieren, wie schlecht es ihr geht.
Endlich lässt das Fieber nach, und Emily braucht länger als eine Woche, bis sie sich wieder normal verhält. Als ich in einer Fakultätssitzung einschlafe, merke ich erst, wie erschöpft ich bin.
An einem der seltenen Abende, an denen er überhaupt zu Hause ist, verbringt Theo tatsächlich Zeit mit seiner Tochter, zeigt ihr den Film Schneewittchen und die sieben Zwerge in der Originalversion von 1937 und hält ihr einen fünfminütigen Vortrag über seine »kontextuelle Bedeutung« (ja, genau so hat er sich ausgedrückt) innerhalb der Geschichte des Zeichentrickfilms.
Emilys erster ganzer Satz, einige Wochen später: »Papa nicht da.«
Weil Papa so gut wie nie da war.
Das war die große Konstante in Emilys ersten anderthalb Lebensjahren: dass ihr Vater immer öfter wegblieb. Es handelte sich um einen allmählichen, aber eindeutigen Ablösungsprozess. Schon in der ersten Woche, in der Emily zu Hause war und wie alle Neugeborenen für Schlafentzug sorgte, begann Theo, sich mit der Ausrede, er müsse mit seinem Buch vorankommen, in seine Wohnung zurückzuziehen.
»Du könntest doch auch hier schreiben«, sagte ich. »Wir haben dir extra ein kleines Büro eingerichtet.«
»Aber die ganze Sekundärliteratur ist in meiner Wohnung.«
»Die ganze Sekundärliteratur ist im Internet. Und da wir hier extra eine Flatrate eingerichtet haben …«
»Das ist einfach nicht die richtige Atmosphäre hier, um mein Buch zu schreiben. Und der Schlafentzug bringt mich um.«
»Emily ist höchstens eine halbe Stunde wach. Außerdem ist sie so ein wunderbares Kind.«
»Ich brauche meine acht Stunden Schlaf.«
»Und ich vielleicht nicht?«
»Doch, natürlich. Aber du arbeitest im Moment nicht, ich dagegen schon. Und wenn ich nicht schlafe …«
Warum ließ ich mich nur darauf ein? Wahrscheinlich, weil er jeden Tag zur Arbeit ging, während ich zu Hause blieb und Mutterschaftsurlaub hatte. So gesehen musste ich geistig nicht so fit sein wie Theo. Obwohl ich mehrfach erwähnte, dass ich es schön fände, wenn er mehr Zeit mit uns verbrächte, setzte ich ihn nicht unter Druck. Ich war einfach zu erschöpft, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Gleichzeitig spürte ich, dass ihn die tatsächliche Elternschaft, sprich: die reale Anwesenheit seiner sehr realen Tochter, überforderte. Trotz seiner Beteuerungen vor der Geburt, wie sehr er sich auf seine Vaterpflichten freue, kam er mit Emilys allgegenwärtiger Präsenz in unserem Leben nicht klar. Kann es sein, dass wir behaupten, etwas zu wollen, obwohl wir insgeheim daran zweifeln? Da ich das aus eigener Erfahrung zur Genüge kannte, konnte ich nicht mit dem Finger auf Theo zeigen – und noch hoffte ich, sein Fluchtbedürfnis sei nur vorübergehend.
Erst als Emily gelernt hatte, neun Stunden am Stück zu schlafen, kehrte Theo in die Wohnung zurück. Er begann sogar, Emily mit dem Kinderwagen auszufahren, sie gelegentlich zu baden und ihr die Windeln zu wechseln. Er ging mit ihr nach draußen, spielte mit ihr und brachte sie zum Lachen. Doch von mir entfernte er sich immer mehr, langsam, aber unausweichlich. Wir redeten noch miteinander, aßen zusammen und erzählten uns, was in unserem Leben so passierte. Aber eine gewisse Kälte hatte sich eingeschlichen – und immer wenn ich Theo fragte, was ihn bedrückte, wich er mir aus.
»Alles in Ordnung«, versicherte er mir eines Abends, nachdem er beim Abendessen minutenlang geschwiegen und ich gesagt hatte, dass mich solche theatralischen Pausen etwas beunruhigten.
»Im Theater dauern die Pausen nie länger als fünf Herzschläge«, erwiderte er.
»Genau deshalb finde ich das fünfminütige Schweigen von vorhin ja
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