Aus der Welt
versagt hat. Hass ist ein so extremes Gefühl. Hat er einen erst einmal gepackt, fragt man sich manchmal, ob es sich wirklich lohnt, jemanden so zu verabscheuen. Mein Vater hatte mich vielleicht um meinen Job bei Freedom Mutual gebracht und mich betrogen, trotzdem konnte ich ihn nach wie vor nicht hassen. Denn genauso gut hätte ich mich selbst hassen können.
Bei Adrienne Clegg war das anders. Sie gehörte nicht zur Familie – und trug auf ihre hinterhältige Art dazu bei, mein ganzes Leben, das ich mir mühsam aufgebaut hatte, zum Einsturz zu bringen. Also hasste ich sie – und im Gegenzug mich selbst, weil ich ihren Angriff auf unsere kleine Familie nicht von Anfang an abgewehrt hatte.
Vielleicht war das das Schlimmste: dass ich schon bei unserer ersten Begegnung nichts Gutes ahnte. Warum reagierte ich nicht? Was veranlasste mich, zuzulassen, dass sie solch einen Schaden anrichten konnte?
Adrienne Clegg. Anfang vierzig. Groß. Rappeldürr. Grellrote Locken, die sie streng zurückgebunden trug. Mit einer Haut, die ständig gebräunt wirkte. (»Ich bin eine Viertelblut-Inkaindianerin«, sagte sie mir einmal.) Eine Frau, die sich stets in Leder kleidete, auffällige Ohrringe und an sechs von zehn Fingern dicke Ringe trug. Sie wirkte wie eine Mischung aus einer Biker-Tussi und einer von den superehrgeizigen New Yorkerinnen, die ständig hier auftauchen.
Leider war Adrienne in New York gescheitert, wie auch schon vorher in L. A. und London. Aber dann war sie nach Boston gekommen. Und wie es der Zufall so wollte, traf sie Theo ausgerechnet in jenem Moment, als er Kontakt zum Bostoner Filmemacher Stuart Tompkins aufgenommen hatte. Der hatte gerade für ungefähr 10 000 Dollar einen gewalttätigen/komischen »Bonnie und Clyde drehen durch«-Film gedreht, der in einer Studentenverbindung spielt. Er hieß Delta Kappa Gangster – ein furchtbarer Titel. Stuart war der klassische Filmfreak und wie Theo Anfang dreißig. Auch er lebte in einer winzigen Wohnung und ernährte sich von Fast Food und Tiefkühlkost. Aber das waren auch schon alle Gemeinsamkeiten. Stuart war groß. Richtig groß und richtig dünn: Bei einer Größe von 1,96 m wog er nur 65 kg. Er hatte schlimme Akne. (»Sein Gesicht sieht aus wie eine Penizillinkultur«, so Theo.) Außerdem hatte er strengen Körpergeruch. Zum Glück wurde ich nie in seine Wohnung eingeladen. Theo – seit Neuestem sein bester Freund – wurde gebeten, eines Abends vorbeizuschauen. Danach erzählte er mir, dass er diese Erfahrung nicht noch einmal machen wolle. Dort stapelten sich nämlich Teller, die seit einem halben Jahr nicht mehr gespült worden waren, überall lag schmutzige Unterwäsche herum, die Toilette war seit dem 11. September nicht mehr geputzt worden, und über allem lag der durchdringende Gestank von jemandem, der es nicht so genau mit der Körperhygiene nimmt.
Angesichts von Theos Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel überraschte es mich nicht weiter, dass er von seinem ersten und einzigen Besuch bei Stuart mit einem Gesichtsausdruck zurückkehrte, als habe er soeben einen toxischen Schock erlitten.
»Nie wieder«, sagte er und öffnete doch tatsächlich meinen Flakon mit Kölnischwasser – meinen einzigen Flakon – und hielt ihn sich unter die Nase, um den frischen Duft einzuatmen. »Genauso gut hätte ich mich in ein Klärbecken begeben können. Aber der Kerl hat einen tollen kleinen Film gedreht, mit dem ich gutes Geld verdienen werde.«
Mit dem ich gutes Geld verdienen werde. Als ich später darüber nachdachte, begriff ich, dass Theo diesen möglichen Gewinn ganz für sich allein beanspruchte.
Aber eines muss ich Theo lassen – ich hätte nie gedacht, dass sich mehr als nur zehn Leute ansatzweise überlegen könnten, Delta Kappa Gangster anzusehen. Aber er erkannte sofort dessen Riesenpotenzial und betrachtete Stuart als großes Talent – »vorausgesetzt, ich kann ihn überreden, sich zu waschen«.
Er hatte Stuart im Archiv kennengelernt, wo dieser stundenweise in der Filmbibliothek arbeitete. Wie Theo fand er nichts dabei, sich zehn Stunden am Tag Filme anzuschauen. Es stellte sich heraus, dass Stuart das sehr kleine Erbe einer »verrückten Tante« benutzt hatte (»Sie musste ja verrückt sein, mir etwas zu vererben«), um diesen achtzigminütigen Splattermovie zu finanzieren. Er hatte ihn im HDV -Format auf dem Campus eines städtischen Colleges in Marblehead gedreht. Alle Schauspieler stammten von dort, jeder arbeitete für eine Pauschale von 300
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