Aus Nebel geboren
Louis berührte gerade eine davon und ballte die Hände zu Fäusten. Jemand kannte ihre einzige Schwachstelle!
„Die Bruderschaft!“, presste er wütend hervor.
Julien nickte.
Woher wusste die Bruderschaft, dass sie sich in Paris aufhielten? Sie waren doch erst vor wenigen Tagen hier angekommen.
„Wir müssen ihn fortschaffen. Ruf Cruz an, wir brauchen hier Hilfe“, wies Julien Louis an. Der erhob sich, holte sein Handy aus der Manteltasche und trat ein Stück beiseite, um Cruz‘ Nummer zu wählen.
Julien konnte seinen Blick nicht von den Pfeilen abwenden. So nah war ihnen die Bruderschaft des wahren Glaubens noch nie gekommen. Gabriel war nie leichtfertig gewesen. Nie ein Risiko eingegangen … also was war geschehen, dass er nun, von Pfeilen mit Rubinspitzen durchbohrt, vor ihm lag?
Am Abend zuvor hatten sie ein weiteres Teil der Wahrheit in ihre Hände bekommen. Und sie waren vorsichtig gewesen. Sie alle überwachten die Übergabe des Steins, und niemand außer ihnen selbst hatte wissen können, wer von ihnen die Wahrheit bei sich trug, als sie sich trennten. So konnten sie mögliche Verfolger verwirren und abschütteln. Ganz bewusst hatten sie dafür die Kleidung gewählt, die ihnen die größte Sicherheit bot. Die ihnen durch all die Zeit schon zur zweiten Haut geworden war.
Julien berührte Gabriels blutgetränktes Wams und zog dabei den ledernen Umhang über die auffälligen Armstulpen. Mit zitternden Fingern durchsuchte er Gabriel nach dem Gegenstand, der vermutlich seinen Tod bedeutet hatte.
Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht, als sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Nichts! Der Lederbeutel, den Gabriel stets bei sich trug – und der seit gestern Abend die Wahrheit enthalten hatte, war verschwunden.
„Louis!“, keuchte Julien matt.
„Sie sind auf dem Weg. Lass ihn uns hinaufschaffen“, entgegnete Louis, aber Julien reagierte nicht.
„Denkst du, Gabriel könnte die Wahrheit irgendwo versteckt haben?“
Der Dunkelhaarige erstarrte in der Bewegung.
„Gabriel hatte sie?“, fragte der ungläubig. „Warum? Solltest du sie nicht bei dir tragen?“
Julien fühlte sich schuldig. Er traf die Entscheidungen, und er hatte bestimmt, wie sie vorgehen würden! Sollte die Wahrheit in die falschen Hände geraten sein, hätte er versagt.
„Lamar und mir war aufgefallen, dass uns jemand gefolgt ist. Ein schwarzer Wagen. Wir hielten es für sicherer, uns zu trennen und Gabriel die Wahrheit anzuvertrauen, bis wir wissen würden, was los war. Du musst das doch mitbekommen haben!? Es war eine Planänderung in letzter Minute. Wenn jemand hier liegen sollte, dann ich – nicht er!“
Louis schüttelte den Kopf und fuhr sich energisch über den Bart. Seine Augen wurden noch schmaler als gewöhnlich, und seine Stimme war unheilvoll leise, als er weitersprach.
„Das Ende der Welt ist gekommen, wenn die Bruderschaft das Elixier verwendet … Gabriel wusste das. Ich kann nicht glauben, dass er es ihnen einfach überlassen haben soll!“
Julien erhob sich, und sein Gesicht war finster vor Wut, Verzweiflung und Angst.
„Einfach überlassen? Was redest du? Sieh ihn dir an, Louis!“, rief er und deutete auf ihren gefallenen Freund. „Sieht er aus, als hätte er ihnen die Wahrheit einfach überlassen?“
Dunkelstes Rot
Paris, heute
„Was tun wir nur?“, fragte Fay und knetete nervös ihre feuchten Hände. Nie in ihrem Leben war sie derart aufgewühlt gewesen. Ihr Herz schlug hektisch gegen ihre Brust, und die Haare standen ihr wirr zu Berge, weil sie sich auf der Suche nach einer Antwort so oft mit den Fingern hindurchgefahren war.
„Ich sage, wir behalten ihn!“, wiederholte Chloé zum hundertsten Mal und pumpte sich das Asthmaspray in den Mund.
„Selbst wenn wir ihn behalten, Schwesterherz, was sollen wir dann damit machen? Verkaufen? An wen bitteschön? Wem immer wir das anbieten, wird sofort die Bullen rufen und dann …?“
Chloé kaute auf ihren Fingernägeln herum.
„Denkst du, der Kerl, der hinter dem anderen her war, wollte das hier?“, fragte sie und sah verstohlen zu der einfachen Tür ihrer Kammer hin. Fay wusste, was ihre kleine Schwester dachte, weil sie selbst in den letzten Stunden vor Sorge schon ganz nervös geworden war.
Falls – und das war nicht ganz abwegig, wie sie zugeben musste – der Mann in der merkwürdigen schwarzen Kleidung suchte, was nun zwischen ihr und Chloé auf dem Bett lag, dann war er bereit gewesen, rohe Gewalt anzuwenden, um es zu
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