Aus reiner Mordlust: Der Serienmordexperte über Thrill-Killer (German Edition)
der Schwester in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Dort fühlt er sich unwohl und unverstanden, hadert mit seinem Schicksal: »Fick dich! Fick dich, du blöde Welt! Ich hasse dich! Halt dein verdammtes Maul! Ich muss hier raus! Lasst mich hier raus! Ich hasse es hier! Ich will hier nicht mehr sein!«
Roman Stadler war selbst längere Zeit in der Psychiatrie und litt unter dieser ausweglos erscheinenden Situation. Die von Michael Myers förmlich herausgeschleuderten Sätze des Bedauerns und der Frustration könnten Roman Stadler den fiktionalen Killer wieder ein Stück nähergebracht haben – gemeinsames Leid verbindet.
Geradezu appellhaften Charakter könnte jene Szene im Film entwickelt haben, als ein Raumpfleger zu dem nach wie vor in der Psychiatrie untergebrachten Michael Myers folgende Sätze spricht: »Lass dich von diesen Mauern bloß nicht einschüchtern. Glaub mir, ich weiß das. Ich habe selbst eine Zeitlang hinter Mauern gesessen. Ich weiß, dass sie dich verrückt machen können. Du musst über die Mauern hinwegsehen. Lebe in deiner Phantasie. Glaub mir, da gibt es keine Mauern, die dich aufhalten können.« Hat Roman Stadler sich möglicherweise aufgefordert gefühlt, sich nicht mehr zurückzuhalten und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen? Seine Mordlust nicht weiter zu unterdrücken? Es endlich zu tun?
Michael Myers tötet im Film überwiegend heimtückisch mit einem Messer und beobachtet begierig den Todeskampf der Opfer. Manchmal spielt er geradezu mit den Verletzten, lässt sie noch einen Moment gewähren, um die dann kurz aufflammende Hoffnung im nächsten Augenblick mit weiteren Messerstichen wieder zu zerstören. Und genau dieses in der Verbrechenswirklichkeit so außergewöhnlich seltene Tatmuster zeigte eben auch Roman Stadler, als er in Rüdiger Neitzels Körper immer wieder hineinstach.
Wahrscheinlich fühlte er sich von der Vorgehensweise des Leinwandtäters auch deshalb angesprochen, weil der Film teilweise aus einer ganz bestimmten Blickrichtung gedreht ist: der Ich-Perspektive des dämonischen, übermenschlich erscheinenden, machtvollen und erbarmungslosen Killers, wenn er sich einem Opfer nähert und zuschlägt. Dadurch entsteht beim Zuschauer der Eindruck, als würde er am Geschehen teilnehmen. Die Grenzen von Fiktion und Realität werden durchlässig, es entsteht eine Zwischenwelt, die auch eigenes Handeln zulässt, möglicherweise sogar herausfordert.
Dass Roman Stadler nun überhaupt nicht von diesem Horrorfilm inspiriert worden sein könnte, erscheint angesichts der unbestreitbaren Übereinstimmungen doch eher abwegig. Und dass es nur der pure Zufall gewesen sein soll, der den Film und die Tat in eine gemeinsame zeitliche Abfolge brachte, erscheint ebenfalls wenig wahrscheinlich. Es spricht also wesentlich mehr dafür als dagegen, dass es tatsächlich so gewesen sein dürfte: Halloween unchained.
Allerdings darf das Medium nicht als Ursache dieses hässlichen Dramas gesehen werden. Roman Stadler hat nicht gemordet, weil er diesen Film gesehen hat. Zugegeben: Auch Mörder benutzen gelegentlich einschlägige Kino- oder Fernsehfilme, Gewaltvideos, PC-Ballerspiele, gedruckte Horrorgeschichten, Urteilsschriften, Zeitungsberichte über reale Verbrechen oder wissenschaftliche Fachaufsätze, in denen Leichen- und Tatortfotos gezeigt werden, als Blaupause für ihre Taten. Dafür gibt es in der Kriminalgeschichte viele eindrucksvolle Beispiele.
Aber: Unzählige wissenschaftliche Untersuchungen kamen bisher überwiegend zum Ergebnis, dass der Konsum von Gewaltdarstellungen in Wort oder Bild sehr wahrscheinlich die Gewaltbereitschaft vornehmlich bei Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsenen zwar steigern kann, allerdings einzelfallbezogen, und dann auch nur eher kurzfristig. Die Gleichung »Medien machen Mörder« ist also zu simpel. Denn es gibt eine Fülle von äußeren wie inneren Faktoren, die neben dem Medium als mitursächlich anzusehen sind, zum Beispiel: Alter, Geschlecht, Lebenserfahrung, Wahrnehmungshäufigkeit, private wie berufliche Konflikte, sozialer Status, Wertesysteme, Aggressionsneigung oder Störungen der Persönlichkeit.
Ein (medialer) Reiz bedingt also nicht notwendigerweise auch eine Reaktion. Es besteht demnach weniger die direkte Gefahr von Nachahmungstaten, vielmehr verändern aggressive Modelle Werte, Normen und Einstellungen zur Gewalt, sie entsensibilisieren gegenüber Gewalttätigkeiten, der Gewaltakt wird als Problemlösungsmittel
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