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Ausersehen

Ausersehen

Titel: Ausersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. C. Cast
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Literatur“ war eine exzentrische Frau gewesen – eine würdige Vertreterin einer langen Reihe von schlecht angezogenen Collegelehrerinnen. Im Rahmen unserer Semesterabschlussarbeiten musste jeder von uns einen Teil des Alten Testaments, der sich mit Tieren befasste, auswendig lernen und vortragen. Mein drittes Collegejahr war lange, lange, lange her, aber als ich zögernd mit der Rezitation der alten Verse begann, purzelten die Wörter aus meinem Mund, als wären sie froh, endlich den Spinnweben in meinem Kopf zu entkommen:
    „Gibst du dem Ross die Kraft?“
    Äh, irgendwas … äh … ach ja:
    „Schrecklich ist sein hoheitsvolles Schnauben.
    Es scharrt in der Ebene und freut sich an seiner Kraft.
    Es zieht aus, den Waffen entgegen.
    Es lacht über die Furcht und erschrickt nicht
    und kehrt vor dem Schwert nicht um.
    Über ihm klirrt der Köcher,
    die Klinge von Speer und Krummschwert.
    Mit Ungestüm und Erregung schürft es den Boden
    und lässt sich nicht halten, wenn das Horn ertönt.
    Sooft das Horn erklingt, ruft es: Ha, ha!
    Und schon von Weitem wittert es die Schlacht,
    das Lärmen der Obersten und das Kriegsgeschrei.“
    Damit hatte ich es geschafft, ihre Aufmerksamkeit zu halten.
    „Das Buch Hiob, Kapitel Irgendwas, Vers Weiß-ich-nicht-mehr.“
    Ihre Ohren waren in meine Richtung gewendet, und sie zuckte kurz mit dem Kopf und schnaubte, was hoffentlich ihre Art war, mir ihre Anerkennung auszudrücken. Weitaus wichtiger war, dass sie die ganze Zeit still und mit allen vier Hufen im Wasser gestanden hatte.
    „Danke, danke. Nein, wirklich, Sie sind zu gütig.“ Ich verbeugte mich so anmutig, wie es mit eingefrorenen Füßen möglich war. „Ich denke, dass deckt unseren Literaturbedarf für den heutigen Tag. Schalten Sie morgen wieder ein, gleiche Stelle, gleiche Welle. Komm, altes Mädchen, es ist verdammt kalt hier drin.“ Ich führte Epi zurück ans Ufer. Wir bewegten uns sehr langsam. Füße sind komische Anhängsel, wenn sie gefroren sind. Ich fühlte mich ein bisschen wie Quasimodo, als ich so aus dem Wasser ans rettende Ufer humpelte.
    Der steinige Boden war durchsetzt mit kleinen Farnen und Grasflecken. Eigentlich ein netter Platz, um eine Rast einzulegen. Es gab ausreichend Gras in Epis Reichweite, was perfekt war, da sie sich ein bisschen ausruhen musste. Ich nahm ihr den Sattel ab und beobachtete dabei unauffällig, wie sie sich bewegte.
    „Ich wünschte, ich hätte einen Striegel. Du siehst ein bisschen zerzaust aus.“ Ich schaute mich um und brach dann ein Stück Borke von einem in der Nähe stehenden Baum ab, mit dem ich ihr den Rücken kratzte. Sie seufzte und schloss die Augen. „Ein bisschen wie eine gute Fußmassage, was?“ Ich tätschelte ihren Bauch. „Warum grast du nicht ein Weilchen und ruhst dich aus, danach schau ich mir deinen Huf noch einmal an.“ Sie knickte das rechte Vorderbein ein, damit sie nicht zu viel Gewicht auf dem Huf hatte, und machte es sich zum Fressen gemütlich.
    Jetzt, wo die größte Aufregung erst einmal vorbei war, ereilte mich der Ruf von Mutter Natur.
    „Epi, ich mache einen kleinen Spaziergang.“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gras zuwandte. „Bin gleich zurück.“
    Ich kletterte den Uferhang hinauf und schaute mich nach einem Gebüsch und einer großblättrigen Pflanze um. Ich hasse Camping, sagte ich das schon? Ich betastete Blätter und teilte sie nach Struktur und Festigkeit ein; sollte mich jemand dabei beobachten, würde er mich direkt einweisen lassen.
    Und – kawumm – da stolperte ich auch schon in einen kleinen Himmel. Weintrauben! Dicke, dunkle, reife Weintrauben! Mein eigentliches Geschäft schnell hinter mich bringend (Notiz für mich: Händewaschen nicht vergessen), steckte ich mir Dutzende pralle Früchte in den Mund. Lecker.
    Ich pflückte so viele Trauben, wie ich tragen konnte, und beeilte mich, zu Epi zurückzukehren.
    „Hey, Epi, sieh mal, was ich gefunden habe.“ Sie schien unbeeindruckt, aber zumindest lief sie nicht unruhig hin und her oder scharrte mit den Hufen in der Erde. Ich legte meine Beute auf die Satteldecke, ging zum Fluss, um die Hände zu waschen und meine Stiefel einzusammeln. Anschließend ließ ich mich müde und erledigt auf den Boden sinken. Meinen Kopf lehnte ich an den Sattel, dann begann ich mein Gelage mit dem Aphrodisiakum von Mutter Natur. (Michelle hat mir mal erzählt, dass Weintrauben ein natürliches Aphrodisiakum sind, und sie musste es

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