Ausersehen
Galopp.
Der Rest des Tages verlief sehr ähnlich wie der Vormittag. Wir ritten so lange, bis meine Füße sich anfühlten, als gehörten sie nicht länger zu meinem Körper, und/oder ich mal musste. Dann gab ich ClanFintan ein Zeichen, dass ich eine Pause brauchte. Wir hielten für ungefähr zehn Sekunden (so fühlte es sich zumindest an, aber es waren wohl eher zehn Minuten), ich bekam meine Beinmassage, und schon waren wir wieder unterwegs und kauten auf einem schier endlosen Vorrat an Trockenfleisch herum.
Außer einem leichten Schweißfilm zeigten die Zentauren keine Anzeichen von Ermüdung. Meine Erschöpfung sorgte dafür, dass ich mich wie ein Mädchen fühlte (und ich meine ein mädchenhaftes Mädchen), und ich kämpfte gegen den Drang an, zu nörgeln. Wobei das bestimmt etwas war, was Rhiannon tun würde – diese Erkenntnis ließ mich nur umso entschlossener den Mund halten.
Irgendwann fiel mir auf, dass uns schon sehr lange keine Reisenden mehr begegnet waren. Im selben Moment bemerkte ich, dass die Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Ich atmete tief die sich abkühlende Luft ein und roch einen Hauch von Salz und Wasser. Zu unserer Rechten konnte ich sehen, dass die Weinstöcke auf den Hügeln Bäumen gewichen waren, und ich erkannte, dass wir uns der Burg aus östlicher Richtung näherten.
„Wir sind fast da.“ Meine Stimme klang viel ruhiger, als ich mich fühlte.
„Ja.“ Er fiel in sanften Trab. „Sie sagten, dass die Kreaturen durch den nordöstlichen Teil des Waldes gekommen sind?“
„Ja.“ Meine Stimme erstarb zu einem Flüstern, als die Erinnerung hochkam.
„Dann werden wir einen Kreis reiten und uns der Burg aus dem Südwesten nähern. Wenn sie immer noch dort sind, haben wir vielleicht Glück, und die untergehende Sonne hilft, und wir können uns unbemerkt anschleichen.“
Für mich klang das zwar blödsinnig, aber da Englischlehrer nicht gerade für ihre ausgefeilten Kriegstaktiken bekannt sind, beschloss ich, meine Kommentare für mich zu behalten.
ClanFintan bedeutete seinen Zentauren mit einer Geste, ihm zu folgen und den Weg zu verlassen. Ich konnte fühlen, wie seine Muskeln arbeiteten. Wir ritten der untergehenden Sonne entgegen. Das über weite Strecken flache Land wurde jetzt hügelig. Salzgeruch hing schwer in der Luft, und ich konnte hören, wie Wellen an felsiges Ufer schlugen. Die Hufe der Zentauren dröhnten, als sie über den mit Tannennadeln übersäten Boden galoppierten. Eichen und Ahornbäume wichen Pinien, und ich war überrascht, als sich der Duft von Lebkuchen und noch etwas anderem unter die salzige Brise mischte. Diesen Geruch konnte ich nicht einordnen. Er war ungewöhnlich, unbestimmbar und klebrig.
Wir schlitterten abrupt in eine Vollbremsung, als vor uns plötzlich Felsen auftauchten, die steil zum Meer abfielen. Dann hatte meine Erinnerung mich also nicht getäuscht – die Küste hatte Ähnlichkeit mit Irlands beeindruckenden Klippen von Moher. Sie breitete sich unter uns aus, so weit wir sehen konnten. Im Norden thronte die Burg wie ein steinerner Wächter gefährlich nah am Abgrund.
Die letzten Sonnenstrahlen trafen die westliche Fassade und ließen den grauen Stein hell wie glänzendes Silber erstrahlen. Mir stockte der Atem, und plötzlich überwältigte mich ungeahnte Sehnsucht. Wenn ich in diese Welt hineingeboren worden wäre, wäre ich in dieser Burg aufgewachsen. Ich blinzelte ein paarmal und sagte mir, dass es nur der scharfe Wind war, der mir Tränen in die Augen trieb.
„Mylord, schauen Sie da, auf den Feldern rund um die Mauer.“
Die Stimme des Palominos klang grimmig. Er zeigte auf die Gegend, die das westliche Tor umgab. Ich kniff die Augen zusammen und folgte der Linie, die sein Finger beschrieb. Es sah aus, als lägen Müllhaufen auf dem Boden, als hätten die Feldarbeiter Getreidesäcke oder Heuballen gestapelt.
„Oh mein Gott. Das sind Leichen.“ Meine Stimme zitterte. Jetzt wurde mir auch klar, was das für ein unbestimmbarer Geruch war.
„Dougal, halte nach jeder Art von Bewegung Ausschau.“
Der Palomino nickte und zog sich zwischen die Bäume zurück, wo er mit ihnen zu verschmelzen schien.
„Connor, unterstütze ihn.“
Der Rotfuchs zog sich ebenfalls in den Wald zurück. Dann sprach ClanFintan mich an: „Rhiannon, Sie sagten, dass Sie in der Nacht, in der Sie hier waren, die Anwesenheit des Bösen spürten, bevor Sie die Kreaturen tatsächlich sahen. Spüren Sie im Moment auch etwas Böses?“
Ich
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