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Ausersehen

Ausersehen

Titel: Ausersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. C. Cast
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Geld und sabbernde Verkäuferinnen um mich herum. Ich war gerade auf dem Weg zu den pastellfarbenen Kaschmirpullovern (sie waren auf fünfhundertneunundzwanzig Dollar heruntergesetzt), als mein Körper plötzlich nach oben gesaugt wurde und – oh, großartig – durch die Decke der Scheune brach.
    Ich schwebte über den beiden Lagerfeuern und den schläfrigen Zentauren. Der Mond war aufgegangen und warf sein silbernes Licht über den sternengefüllten Nachthimmel. Dieses Mal wappnete ich mich gegen das Gefühl der Höhenangst, als mein Körper gegen meinen Willen immer höher und höher stieg und in Richtung Nordosten trieb.
    Zu meiner Linken konnte ich die schwelenden Überreste der Burg erkennen. Ich schloss die Augen und bat inständig darum, nicht dorthin geführt zu werden. In der gleichen Sekunde wurde ich von einem Gefühl der Sicherheit erfasst. Also entspannte ich mich ein bisschen und öffnete die Augen wieder.
    Und richtig, ich bewegte mich nicht in Richtung Burg, sondern auf die entfernten Berge zu. Ich versuchte, gen Osten zu fliegen, damit ich nach Epi schauen konnte – und vielleicht ein bisschen über dem Tempel kreisen und gucken, was da so vor sich ging –, aber wie schon zuvor hatte ich keine Kontrolle über dieses Traumerlebnis.
    Ich sagte mir, dass es dieses Mal anders war. Beim ersten Mal hatte ich ja nicht gewusst, dass das, was ich gesehen hatte, Realität war. Dieses Mal wusste ich es besser.
    Mein schwebender Körper reiste über die dunklen Dörfer hinweg. Ich schaute hinunter, um sicherzugehen, dass niemand die Evakuierungsanweisungen missachtet hatte und zu Hause geblieben war. Mir blieb aber nicht viel Zeit, nach Lebenszeichen Ausschau zu halten, denn als ich den Waldrand erreichte, wurde ich immer schneller, und die Bäume unter mir verschwammen zu einem einzigen dunklen Fleck. Mein Körper schleuderte nach vorne, als wäre er von einer Zwille abgeschossen worden.
    Dann wurde ich wieder langsamer und stoppte vor einem Gebäude, das am Fuße eines schroffen Gebirgspasses stand. Es war eine große Burg, beinahe so groß wie die meines Vaters. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte ich fest, dass es überhaupt keine Ähnlichkeit mit der MacCallan-Burg gab. Wo die Burg meines Vaters elegant und pittoresk gewesen war, war dieses Gebäude schlicht und beeindruckend.
    Mit einem Mal fühlte ich es. Wenn ich gestanden hätte, hätte ich mich wohl zusammengekrümmt. Es war die gleich Pein wie in der Nacht, als ich den Überfall miterlebt hatte. Die vor mir liegende Burg strahlte das Böse aus, dick und zäh wie Honig, der von einem Löffel tropft. Das Echo des Horrors jener Nacht hallte von den Mauern unter mir wider – nicht als Ton, sondern als Gefühl. Ich blinzelte und versuchte, mich auf die Burg zu konzentrieren und sie objektiv zu betrachten, aber die Schatten des Todes beeinflussten meine Wahrnehmung. Ich konnte die Geister der gefallenen Männer nicht abschütteln.
    Die Burg sah aus, als hätte man sie aus den Felsen gehauen. Sie war ein perfektes Quadrat mit dicken Mauern und verrammelten Toren. Die Mauern selber waren aus rauem, grauem Stein errichtet, der die Anlage alt wirken ließ; wie knorriges Holz, das vielen Stürmen getrotzt hatte. Als ich die Burg näher betrachtete, kam mir eine von Edgar Allen Poes finsteren Kurzgeschichten in den Sinn, Ligeia . Die Hauptgeschichte spielt in einer uralten Abtei, die von einer dicken, alten Steinmauer umgeben ist. Innerhalb dieser Mauern beobachtet Poes Held, wie seine zweite Frau vom Geist seiner ersten Frau umgebracht wird – die dann wiederaufersteht und den Leichnam der zweiten Frau verzehrt, während der Erzähler dem Wahnsinn anheimfällt. Irgendwie schien dieser Vergleich angemessen.
    Mein Körper bewegte sich vorwärts, bis ich mittig über dem Gebäude schwebte. Die Burg schlief nicht. Ich konnte viele offene Feuer im großen rechteckigen Innenhof sehen. Auch wenn mein Traumkörper keine Temperaturen fühlte, bemerkte ich, dass es hier kalt sein musste, denn die Gestalten, die sich um die Feuer kauerten, waren in dicke Decken und Mäntel mit Kapuzen gehüllt. Ich erschauerte, und für einen Augenblick befürchtete ich, die Decken und Mäntel wären eigentlich Flügel, aber eine der Gestalten schüttelte die Decke ab, als sie Holz nachlegte, und ich sah, dass sie definitiv menschlich war. Eine Frau. Aus eigenem Antrieb schwebte mein Körper näher zu ihr. Alle Gestalten waren Frauen, aber sie bewegten

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