Ausgebrannt - Eschbach, A: Ausgebrannt - Ausgebrannt
immer. Er blätterte durch Tabellen voller Zahlen, deren Sinn er nicht verstand, betrachtete Diagramme, von denen er nicht wusste, was sie bedeuteten, und las Begriffe, die ihm nichts sagten. Würde man jemals sicher wissen, dass all das wahrhaftig nichts bedeutete? Nur das Produkt einer ins Wahnhafte abdriftenden Fantasie war?
Er las einen Tagebucheintrag in Blocks winziger, energiegeladener Handschrift. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Niemals, niemals, niemals. Heute war der Pfarrer da, wollte mich überreden, aufzuhören. Ein Rawunzel von einem Mann, hat noch nie im Leben einen Streich getan, weiß gar nicht, was schmutzige Hände sind. Trotzdem hat er das Reißen, da sieht man mal. Und ein Dodl ist er obendrein.
Er hörte Blocks Stimme regelrecht vor sich, seinen knorrigen österreichischen Akzent, glaubte wieder diese Gewissheit zu spüren, die der alte Mann stets ausgestrahlt hatte und die ihn so faszinierend hatte wirken lassen.
Auf einmal war Markus sich sicher, dass er diesen Marsch bewältigen würde. Was war denn groß zu tun? Er musste einen Schritt tun, danach den nächsten und so weiter. Solange er immer einfach nur den nächsten Schritt tat, war alles in Ordnung. Nur darum ging es, um den nächsten Schritt. Unnötig, an Kilometer und Meilen und andere ohnehin schwer vorstellbare Maße zu denken; das bedrückte einen nur unnötig. Es genügte, an den nächsten Schritt zu denken, ihn zu tun, und immer so weiter.
Er stand auf, fühlte sich regelrecht beflügelt. Nein, er würde diese Bücher nicht hier liegen lassen. Er tat sie wieder in den Rucksack. So viel schwerer machten die ihn auch nicht. Er zog die Riemen wieder an und machte den nächsten Schritt und den nächsten und den nächsten.
Irgendwann ging es wieder abwärts. Das Gehen fiel leichter, zunächst, aber bald zerrte jeder Schritt an den Kniegelenken, und die Füße begannen, wehzutun. Überhaupt waren die Schuhe viel zu warm, für den Winter gedacht; er hatte das Gefühl, dass das Wasser darin stand. Es forderte Willenskraft, den nächsten Schritt zu tun.
Dann ging es wieder aufwärts. Aus unerfindlichen Gründen lag ein paar Kilometer lang Schotter, war der Weg breit und so gebaut, als solle er befahren werden, sodass Markus schon hoffte, demnächst in bewohnteres Gebiet zu kommen, doch mit einem Schlag hörte der Schotter wieder auf, der Pfad wurde wieder eng und wand sich durch Dickicht.
Manchmal stolperte er und fing sich nur mit Mühe. Er hatte sich das andere T-Shirt nass auf den Kopf gelegt, trotzdem pochte ihm das Blut im Schädel. Manchmal stapfte er durch schlammige Stellen, dann wieder peitschten ihm Zweige über die Arme oder ins Gesicht. Die Insektenstiche begannen zu jucken, und das Kratzen machte es nur noch schlimmer. Er hatte die Hosenbeine hochgekrempelt, seine Knie waren zerschrammt, die Waden zerbissen.
Schlammiger Grund? Er schalt sich einen Narren. Bei der nächsten derartigen Stelle ging er der Feuchtigkeit nach, drang ins Unterholz ein, zwängte sich durchs Gebüsch, bis er auf einen Tümpel stieß, in dem Wasser stand. Er fingerte die leere Plastikflasche heraus, tauchte sie ein, doch das Wasser sah darin schlammig aus, braun und undurchsichtig.
Er leerte es wieder aus, suchte nach einem Taschentuch, versuchte, das Wasser damit zu filtern. Aber es sah immer noch eklig aus, als er die Flasche voll hatte.
Mutlos sank er zu Boden. Auf einmal kam er sich so dumm vor, wie ein Idiot. Wahrscheinlich hatte er sich sogar längst verlaufen und es nicht einmal gemerkt.
Verflucht noch mal! Und diese Stiche und Bisse überall, das machte ihn rasend. Seine Füße fühlten sich an wie blutiges Fleisch, und womöglich waren sie das auch; das wollte er gar nicht so genau wissen.
Wieder eine von diesen verfluchten Mücken, groß und aufdringlich! Er schlug danach, erwischte sie aber nicht.
Er war am Ende seiner Kräfte. So sah es doch aus. Von wegen immer nur an den nächsten Schritt denken. Alles Quatsch. Diese ganze Selbstmotivierung, all dieses Psychozeug, das sie einem in den Verkäuferseminaren eingetrichtert hatten – für den Arsch alles. Am Ende zählte bloß, dass man mutterseelenallein in der Scheiße saß und nicht mehr weiterwusste.
Er zerrte sich den Rucksack vom Rücken, machte ihn auf, wühlte das Telefon heraus. Großer Gott – es fand ein Netz! Welcome stand da auf dem Display!
Halt. Halt. Ein Zittern überlief ihn. Rettung war nahe, nur ein paar Tastendrücke entfernt, aber … Ein großes Aber.
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