Ausgebrannt - Eschbach, A: Ausgebrannt - Ausgebrannt
Sie würden ihn retten, vielleicht. Aber dann würden sie ihn auch gleich verhaften. Wenn er diese Tasten drückte, dann war sein Weg zu Ende. Dann war alles umsonst gewesen. Jeder Schritt. Alles.
Er befühlte das kleine Gerät. So winzig war es, lag schweißfeucht in seiner Hand. Plastiktasten, Ziffern darauf. Schon jetzt rasten digitale Daten zwischen ihm und einer Funkstation irgendwo hin und her. Man würde ihn anhand dieser Funksignale aufspüren können, auf ein paar Meter genau.
Was sollte das Ganze, wenn er es nicht überlebte? Vielleicht hatte ihm längst eines der Insekten ein Gift injiziert, mit dem er allein nicht fertigwerden würde? Vielleicht hatte er sich an einem der Dornenzweige mit Wundstarrkrampf angesteckt? Es gab so viele Gefahren hier draußen, und die meisten kannte er wahrscheinlich gar nicht.
Einfach nur den Notruf wählen. Jetzt, solange er noch Verbindung hatte. Das konnte ein paar Kilometer weiter schon wieder anders sein. Den Notruf wählen, und alles war gut.
So schlimm war das doch nicht. Verhaftet, na und? Für illegale Einreise würde man ihm nicht viel tun. Und ob die übrigen Punkte noch galten … Na ja, wahrscheinlich galten sie noch.
Der Gedanke kam an die Oberfläche wie ein langsam aufsteigender Wal, und tausend ängstliche Stimmen wollten ihn übertönen, wollten, dass er endlich die Notrufnummer tippte, 9 - 1 - 1 , das war doch ganz einfach …
Wenn er das tat, würde er nie erfahren, weswegen sein Vater hatte sterben müssen.
Etwas lief ihm über die Wangen, aber es waren keine Insekten, es waren Tränen. Mit einer mühsamen, fast arthritischen Bewegung seiner Finger schaltete er das Telefon ab. Er umfasste es, während unbändige Wut in ihm aufstieg, packte es und holte aus und schleuderte es fort, weit weg durch die Bäume, auf Nimmerwiedersehen.
Dann schlug er die Hände vor den Mund, dem ein Geräusch entstieg, das halb Lachen und halb Schluchzen war. So saß er eine ganze Weile, bis er endlich im Stande war, sich hochzustemmen und den Marsch fortzusetzen.
Irgendwann sank die Sonne dem Horizont entgegen, und die Frage, ob er den nächsten Schritt machen sollte, stellte sich überhaupt nicht mehr. Seine Füße taten es automatisch. Seine Gedanken waren erloschen. Stumpf und lethargisch schleppte er sich dahin, erfüllt allenfalls von einer wachsenden Ahnung, sich auf seinen Tod zuzubewegen.
Es wurde dunkel. Er suchte einen Platz, an dem er sich hinlegen konnte. Um wilde Tiere machte er sich längst keine Sorgen mehr. Er zog seine Schuhe und die Socken aus, betrachtete die Sohlen, die voller Blasen waren, wenn auch weniger schlimm, als es sich angefühlt hatte. Er aß den Rest seines Proviants, trank noch etwas von dem Wasser, legte sich hin und schlief ein.
Er erwachte davon, dass Licht über sein Gesicht kitzelte. Wie ein Roboter setzte er sich auf, begutachtete den Zustand seiner Füße, zog Socken und Schuhe darüber und erhob sich. Er wusste nicht mehr, wozu er weiterging. Er hatte aufgegeben, darüber nachzudenken. Er ging, das genügte.
Es war etwas kühler als am Tag zuvor. Manche der Äste, die ihm ins Gesicht fuhren, waren feucht, netzten ihm die Haut. Das tat wohl.
Schritt um Schritt. Er fand einen Rhythmus, der mehr war als bloße Schritte, einen Rhythmus, der Fortbewegung war. Ein eigenartiges Empfinden stieg in ihm hoch, das kraftvolle, archaische Gefühl, Teil einer uralten Tradition zu werden, einer Tradition, die älter war als er, als alles, was er bisher gekannt hatte. Es war, als stiege die Erinnerung an Urzeiten in ihm auf, als erinnerten sich seine Zellen daran, dass sie von Jägern abstammten, die Jahrmillionen lang durch die Savannen eines jungen Planeten gestreift waren.
Seine Finger griffen nach Blättern, kleinen, grünen, frischen Sprösslingen, rissen sie ab und steckten sie in den Mund. Er kaute, schmeckte das Bittere, das Feuchte, schluckte es mit seltsamer Selbstverständlichkeit.
Der Weg führte bergan, öffnete ihm den Blick in die unbegreifliche Weite des Waldes, den er durchquerte. Graue, ferne Zacken aus Granit an einem Horizont, ein knittriger Streifen Gelb am anderen, und dazwischen nur Wald, Wald, über tief gestaffelte Hügelrippen gefaltet, unter einem endlosen Himmel voller bleierner Wolken. Es war windstill, überhaupt lautlos, ein Ozean aus Bäumen, der ihn mit diamantener Ruhe umfing. Dünner Rauch lag in den Tälern wie Milch. Eine Krähe flog krächzend über ihn hinweg. Die Welt schien zu
Weitere Kostenlose Bücher